Rezension über:

Burkhard Wöller: "Europa" als historisches Argument. Nationsbildungsstrategien polnischer und ukrainischer Historiker im habsburgischen Galizien, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2014, 478 S., ISBN 978-3-89911-233-7, EUR 71,70
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Rezension von:
Heidi Hein-Kircher
Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Heidi Hein-Kircher: Rezension von: Burkhard Wöller: "Europa" als historisches Argument. Nationsbildungsstrategien polnischer und ukrainischer Historiker im habsburgischen Galizien, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/29285.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Burkhard Wöller: "Europa" als historisches Argument

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"Europa" und die "Rückkehr nach Europa" sind seit dem Zerfall der sowjetischen Einflusssphäre wichtige Bezugspunkte in den politischen Diskursen im östlichen Europa geworden, so zum Beispiel derzeit hinsichtlich der Ukraine, während die "Rückkehr nach Europa" die polnische "Beschwörungsformel" (12) in der Transformationsphase war. Die Frage nach der Zugehörigkeit zu "Europa" wird instrumentalisiert, weist aber auf ein Identitäts- und ein Problem der kulturellen Selbstverortung hin. Hierbei reiche "Europa" auf eine lange Tradition in den politischen Diskursen in beiden Ländern zurück und habe, so die zentrale These des anzuzeigenden Bandes, eine nicht zu unterschätzende nationsbildende Funktion wahrgenommen (14).

Liegt die Bedeutung des Referenzpunktes "Europa" gerade aufgrund der aktuellen Diskurse auf der Hand, so verwundert es, dass dieser bislang noch nicht detailliert und in vergleichender Perspektive untersucht worden ist. Dieses Desiderat greift Burkhard Wöller auf und entwickelt eine höchst spannende Analyse, indem er inhaltliche Kontinuitäten, Brüche und Parallelen zwischen dem polnischen und ukrainischen Diskurs im 19. Jahrhundert als Grundlage heutiger Diskurse offenzulegen versucht. Hierbei konzentriert er sich auf das habsburgische Kronland Galizien und Lodomerien, weil dieses gleichermaßen als "Piemont" der polnischen und ruthenischen Nationalbewegung gedient habe und weil es selbst durch seine periphere Lage zum Objekt von Europa-Diskursen geworden sei. Um das Untersuchungsfeld sinnvollerweise weiter einzugrenzen, fokussiert sich Wöller auf die Historiografie: Historiker gehörten im 19. Jahrhundert zu den intellektuellen Eliten und nahmen, insbesondere bei den staatenlosen Völkern, wichtige Funktionen in den Führungsebenen der Nationalbewegungen ein, aber die Historiografie leistete auch einen wesentlichen Beitrag zu den nationalen Bewusstseinsbildungsprozessen. Daher ist es dem Verfasser daran gelegen herauszuarbeiten, wie "Europa" von Historikern beider Nationen unter den galizischen Bedingungen konstruiert wurde.

Um die verschiedenen Ausprägungen, Schwerpunktsetzungen, aber auch Anwendungsmöglichkeiten "Europas" zu untersuchen, untergliedert Wöller seine fundierte Studie im Anschluss an ein einleitendes und ein kontextualisierendes Kapitel, in dem er die Entwicklung der galizischen Geschichtswissenschaft beschreibt, in drei logisch aufeinander aufbauende Kapitel zu den zentralen Motiven der Diskurse. Diese Motive analysiert er exemplarisch und zugleich systematisierend an der Darstellung von Ereignissen oder Personen, die meist von Historikern beider Nationalitäten untersucht wurden: Zunächst geht es ihm um die Analyse von "Europa" als Fortschrittsnarrativ, das die jeweilige "Nation im 'europäischen Zivilisationsprozess'" verortet. Hier wird deutlich, dass der damals in Galizien herrschende Fortschritts- beziehungsweise Modernisierungsdiskurs sich in den Geschichtsdarstellungen rhetorisch widerspiegelt, indem über Vergleiche, Analogien und Einflussbeschreibungen die jeweilige Bedeutung von Personen, etwa Kazimierz Wielki, oder Ereignissen, wie dem 1000. Todestag von Kyrill und Method, genutzt wurden, um ihren Beitrag für "Europa" herauszustellen. Das folgende Kapitel befasst sich mit den Zivilisierungsmissionen, die die Historiker ihrer jeweiligen Nation zuschrieben, beispielsweise in der Kolonisierung Rotreußens durch Kazimierz Wielki oder die Unionen von Krewo, Lublin und Brest. Wöller erkennt hierin eine historiografische Legitimierungsstrategie, indem man die Vorstellung von einer kulturell-zivilisatorischen Mission in die Ereignisse der Vergangenheit hineininterpretierte und dabei ein West-Ost-Entwicklungsgefälle beschrieb. Das polnische Narrativ, das trotz Überschneidungen nicht mit dem Kresy-Mythos gleichzusetzen sei, sei genutzt worden, um das polnische Volk als ebenbürtig zu beschreiben und eindeutig im Westen Europas zu positionieren. Das ruthenische Gegennarrativ habe sich hingegen im Wesentlichen an dem polnischen Narrativ gerieben und nur selten Vorstellungen einer entsprechenden eigenen Mission entwickelt.

Die in diesen Diskursen anklingenden Bollwerk-Mythen, das heißt die Vorstellung einer Verteidigung "Europas" gegen die "Barbaren", thematisiert das folgende Kapitel, indem der Verfasser die vielseitigen Interpretationen der Rus' und von Halič-Volyn' als Vorposten gegen die asiatischen Steppenvölker, den Mongolensturm, das "Martyrium" König Władysławs bei Warna, aber auch die Rolle der Kosaken in den beiden Historiografien, die Schlacht am Kahlenberg im Rahmen der Sobieski-Feiern und nicht zuletzt den Grundwaldmythos als "umgekehrtes" Bollwerk unter dieser Perspektive diskutiert. Deutlicher als bei den anderen Vorstellungsebenen von "Europa" tritt bei der Analyse hervor, dass die Funktionalitäten dieses Narrativs und dessen Instrumentalisierbarkeit von zahlreichen Variablen abhängig waren. Es beinhalte aber letztlich immer die Selbstdarstellung als Verteidiger und werte damit die eigene Nationalität auf. Schließlich aber habe gerade dieses Narrativ den historischen Beweis erbracht, so Wöller, dass die eigene Nation schon immer einen festen Platz in Europa eingenommen habe, woraus moralische Ansprüche entwickelt worden seien.

In dem abschließenden analytischen, aber kürzeren Kapitel beschreibt der Verfasser den zunehmenden Antagonismus zwischen beiden Nationen im Ersten Weltkrieg, der sich auch in den Geschichtswerken wiederfand und einen Höhepunkt in den Europa-Diskursen darstellte. Hierbei sei zwar auf die Motive aus der Vorkriegszeit rekurriert worden, sie seien aber angesichts des Krieges verschärft worden, weil nun populistisch-tendenziöse Schriften wissenschaftliche Schriften verdrängt hätten: In ihnen sei die westliche Orientierung der beiden Nationen, aber auch der "asiatische" Charakter Russlands hervorgehoben worden, sodass die Bollwerk-Vorstellungen sich gegen die "Barbarei des Moskowitismus" gerichtet hätten, um Russland endgültig von "Europa" auszuschließen. Indem die Schriften auch außerhalb Galiziens - teilweise in Übersetzung - verlegt wurden, sei bewusst versucht worden, durch sie Einfluss auf die politische Meinung zu nehmen. Es ging dabei darum, einerseits die Zugehörigkeit beider Nationen zum Westen und die Abgrenzung gegen Russland herauszuarbeiten, andererseits aber Loyalität zu den Mittelmächten zu demonstrieren. In seinem Fazit kommt Wöller zu dem Schluss, dass die Europäizität ihrer Nation von Historikern beider Nationalitäten niemals in Zweifel gezogen worden sei, dass sich "Europa" und (eigene) "Nation" wechselseitig bedingt hätten. So sei "Nation" immer das primäre Anliegen gewesen, "Europa" sei als diskursive Nationsbildungsstrategie mit Außen- und Innenkommunikationsfunktionen (374) verwendet worden.

Diese sehr lesenswerte Studie greift damit nicht nur ein aktuelles Thema in historischer Perspektive auf, sondern hinterfragt auch mit einem kritischen, aber sehr kenntnisreichen Außenblick wichtige Interpretationslinien der jeweiligen Historiografien, die bis heute auch in wissenschaftlichen Werken zu finden sind. Von besonderem Wert ist der vergleichende Ansatz, den es lohnen würde, auch auf weitere Nationen an der europäischen Peripherie auszudehnen.

Heidi Hein-Kircher