Rezension über:

Megan Cassidy-Welch (ed.): Remembering the Crusades and Crusading, London / New York: Routledge 2017, XIV + 251 S., ISBN 978-1-138-81114-0, GBP 100,00
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Rezension von:
Nikolas Jaspert
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Nikolas Jaspert: Rezension von: Megan Cassidy-Welch (ed.): Remembering the Crusades and Crusading, London / New York: Routledge 2017, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 10 [15.10.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/10/29509.html


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Megan Cassidy-Welch (ed.): Remembering the Crusades and Crusading

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Die mittelalterlichen Kreuzzüge sind ein hervorragender Untersuchungsgegenstand erinnerungsgeschichtlicher Forschung. Kaum ein anderes historisches Phänomen weist eine vergleichbare mythomotorische Schubkraft auf. Bis in die unmittelbare Gegenwart sind die Kreuzzüge immer wieder vor sich verändernden zeithistorischen Hintergründen neu gedeutet und bewertet worden, sie gehören ohne Zweifel zu den großen Polymythen Europas - und dies sowohl aus christlicher, jüdischer wie islamischer Sicht. Dies gilt nicht nur für die jüngere und jüngste Zeit, sondern auch für das Mittelalter, wie dieser klug zusammengestellte Sammelband zeigt. Er vereinigt 15 Beiträge zumeist jüngerer Kreuzzugsforscherinnen und -forscher, die sich kulturwissenschaftlichen Fragestellungen und Perspektiven gegenüber offen zeigen und dadurch die traditionelle Fokussierung der englischsprachigen Mediävistik auf die militär- und frömmigkeitsgeschichtliche Dimension der Kreuzzüge erweitern. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf den Orientkreuzzügen in die Levante und auf den Erinnerungskulturen lateinischer Christen, doch werden auch andere Kriegsszenarien - das Baltikum, die Iberische Halbinsel - sowie griechische, jüdische und islamische Gedächtniskonstruktionen berücksichtigt.

Zwar skizzieren die einleitenden Überlegungen der Herausgeberin knapp das theoretische Gerüst der jüngeren kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, darunter auch mittlerweile fest in der deutschen Geschichtswissenschaft verankerte Konzepte wie die des kommunikativen, kollektiven und des kulturellen Gedächtnisses. Doch besteht das Ziel der Autorinnen und Autoren offenbar weniger darin, Beiträge zur systematischen Diskussion zu liefern (am ehesten ist dies in den Aufsätzen von Rebecca Rist und Nicholas Paul/Jochen Schenk der Fall), als vielmehr ein - zumindest in der deutschsprachigen Mediävistik - inzwischen erprobtes Instrumentarium auf einen Untersuchungsgegenstand anzuwenden, der noch immer viel zu selten aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive betrachtet wird. Der durch die Herausgeberin umrissene Versuchsaufbau ist unterschiedlich stark umgesetzt worden, denn während einige Beiträge sorgfältig räumlich oder zeitlich unterscheiden und dabei "multiple pasts" konturieren, sind andere einem vergleichsweise vereinfachten Verständnis von Erinnerung verpflichtet; systematische Differenzierungen unterschiedlicher Erinnerungs- oder Gedächtnisformen werden kaum vorgenommen.

Der erste Abschnitt versammelt sechs Aufsätze (von Jessalynn Bird, M. Cecilia Gaposchkin, Elizabeth Lapina, Anne E. Lester, Darius von Güttner-Sporzyński und Lee Manion), die unterschiedliche Erinnerungsmedien - oder wie es hier heißt: Modi des Gedächtnisses - vorstellen. Mit Predigten, Liturgie, Kunst, lateinischer Chronistik, volkssprachiger Literatur und materiellen Bedeutungsträgern wird ein breites Spektrum an Quellengattungen abgehandelt und damit die geläufige Konzentration auf narrative Texte aufgebrochen. Der zweite Teil vereinigt vier Beiträge (von Katherine Allen Smith, James Naus und Vincent Ryan, Rebecca Rist, Nicholas Paul und Jochen Schenk), die ihren Blick auf die erinnernden Gemeinschaften richten. Das Mönchtum und das Königtum, jüdische Gemeinden und der Adel sind die untersuchten Gruppen. Schließlich fokussieren die Beiträge von Jonathan Harris, Ana Rodríguez, Alex Mallett und Carsten Selch Jensen in einem letzten, etwas irreführend mit "Cultural Memory" überschriebenen Abschnitt die Erinnerungskulturen in Byzanz, Kastilien, dem dār al-Islām und in Livland/Estland.

Unter der Vielzahl an Beobachtungen und Ergebnissen des Bandes seien einige herausgehoben. Anne E. Lester setzt sich mit Recht für eine stärkere Berücksichtigung mobiler "Souvenirs" aus der Levante aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive ein. Katherine Allen Smith untersucht in einem besonders anregenden Beitrag die Schnittstelle zwischen Kreuznahme und Klostereintritt, indem sie die Vita Adjutors von Tiron und weitere Texte als monastisch-adlige Gedächtnismedien analysiert. Nicholas Paul und Jochen Schenk zeigen einmal mehr, wie ertragreich die Erforschung adliger Erinnerungspolitik sein kann, gerade im Vergleich mit der häufig (etwa im Beitrag von James Naus/Vincent Ryan) abgehandelten Mythisierung kreuzfahrender Könige. Elizabeth Lapina macht wahrscheinlich, dass der Heilige Georg in einigen englischen und französischen Darstellungen des 12. bis 14. Jahrhunderts ikonographisch als Kämpfer gegen Muslime stilisiert und damit in aktuelle Kontexte eingebunden wurde. Rebecca Rist lenkt den Blick auf die Urteile jüdischer Autoren über den Anteil des Papsttums an der Kreuzzugsbewegung, verschweigt indes die für das Generalthema des Bandes so einschlägigen "Memorbücher". Jonathan Harris behandelt die Erinnerung an den sogenannten Vierten Kreuzzug im spätmittelalterlichen Byzanz und konstatiert die weitgehende Absenz anti-venezianischer Invektiven. Gleich mehrere Autoren unterstreichen die Instrumentalisierung der mittelalterlichen Kreuzzüge für gesellschaftliche und politische Anliegen in der Gegenwart (in der islamischen Welt, in den Baltischen Staaten u.a.).

Ernüchternd ist der fast ausschließliche Rekurs der meisten Beiträge auf englischsprachige Titel und die mittlerweile in der internationalen Kreuzzugsforschung fast geläufige Nichtbeachtung einschlägiger deutschsprachiger Forschungsbeiträge. Auch wenn das theoretische Potential der Thematik keineswegs ausgeschöpft wurde und die gedächtnisgeschichtliche Dimension einiger der hier besprochenen Fälle keineswegs unbekannt ist - man denke an die einschlägigen Arbeiten zur liturgischen Memoria des Ersten Kreuzzugs durch Amnon Linder, zur Tradition kreuzfahrender Adliger durch Jonathan Riley-Smith u.a.m. -, so besteht der Wert dieser Aufsatzsammlung vor allem darin, anhand einer Vielzahl aufschlussreicher Fälle einen Perspektivwechsel vom Ereignis zur Erinnerung vorgenommen zu haben. Damit aber wird nicht nur die Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit des kulturellen Gedächtnisses im Mittelalter dokumentiert, sondern auch eine wichtige Erklärung für die Langlebigkeit der Kreuzzugsbewegung geliefert.

Nikolas Jaspert