Rezension über:

Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772-1844, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015, 362 S., ISBN 978-3-643-50669-6, EUR 39,90
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Rezension von:
Elisabeth Haid
Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth Haid: Rezension von: Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772-1844, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2015, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 4 [15.04.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/04/31637.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Christoph Augustynowicz: Grenze(n) und Herrschaft(en) in der kleinpolnischen Stadt Sandomierz 1772-1844

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Mit rund 25.000 Einwohnern gehört Sandomierz heutzutage eindeutig zu den kleineren Städten Polens. In Mittelalter und Früher Neuzeit zählte die am nördlichen Weichselufer gelegene Stadt hingegen neben Krakau zu den bedeutendsten Zentren Kleinpolens. Christoph Augustynowicz geht es jedoch weniger um die historische Bedeutung der Stadt. Vielmehr dient ihm Sandomierz als Fallbeispiel für das Verhältnis von Grenze und Herrschaft. Der Untersuchungszeitraum beginnt mit der ersten Teilung Polens 1772, durch die Sandomierz zur Grenzstadt wurde, und endet mit der Auflösung des Gouvernements Sandomierz 1844. Die detailreiche Studie nimmt somit die Peripherisierung Sandomierzs seit dem späten 18. Jahrhundert in den Blick. Die neue Randlage der Stadt sowie die mehrfachen Herrschaftswechsel bilden den Ausgangspunkt für die Analyse unterschiedlicher Arten von Grenzen, ihrer Verortung im Raum und ihrer Entwicklung im Laufe der Zeit.

Nach einem knappen Überblick über die Vorgeschichte Sandomierzs (Kapitel I) vertieft Augustynowicz die Themenbereiche Administration (Kapitel II), Wirtschaft und Gesellschaft (Kapitel III), Raumplanung und Grenzverläufe (Kapitel IV) sowie Gesundheitswesen und Bildung (Kapitel V). Er verweist auf die Auswirkungen der neuen Staatsgrenzen auf Wirtschaft und administrative Gliederung wie auch auf lebensweltliche Zusammenhänge im Grenzraum. Die Entwicklung der Weichsel von der wichtigsten Verkehrsader der Region zu einer bewachten Grenzlinie wirkte nicht nur wirtschaftlich hemmend, sondern minderte auch die administrative Bedeutung der Grenzstadt zu Gunsten anderer, zentraler gelegener Städte in der Region. Zugleich mit einer zunehmenden Peripherisierung zeigt Augustynowicz jedoch auch gegenläufige Tendenzen wie die Aufwertung der Stadt im kirchenadministrativen System durch die Gründung der Diözese Sandomierz 1818. Er verweist auf die Teilung des traditionellen Einzugsbereichs der Stadt durch die Staatsgrenze wie auch auf die fortbestehenden Verflechtungen und grenzüberschreitende Migration. Er zeigt die Bedeutung der Weichsel-Überfuhr und deren Konjunktur in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Grenzregimen, die konstituierend für das Leben an und mit der Grenze wirkten. Neben der Staatsgrenze charakterisiert Augustynowicz die relativ fließende Grenze zwischen der Stadt Sandomierz und ihrem Umland und zeigt sie als charakteristisch für polnische Städte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Verstärkte obrigkeitliche Erfassung, Zerstörungen im Zuge von Kriegshandlungen und Erneuerungspläne änderten wenig an der agrarischen Prägung der Stadt.

Zu den räumlich manifesten Grenzen kommen die "unsichtbaren" Grenzen der "gesellschaftlichen, ethnischen oder konfessionellen Identitätsgruppen in der Stadt" (169) hinzu. Augustynowicz beschreibt vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Gegebenheiten die gesellschaftlichen Möglichkeiten der unterschiedlichen Standes- und Berufsgruppen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er der jüdischen Bevölkerung, ihrer Stellung in der Stadt und ihren (teils untypischen) Betätigungsfeldern. Er diskutiert die Bedeutung von rechtlichen Normen und Herrschaftspraxis auf staatlicher und lokaler Ebene. Er zeigt Herrschaftswechsel als Katalysator für gesellschaftliche Veränderungsprozesse und hebt Elemente lebensweltlicher Beharrlichkeit hervor. Mit einem Kapitel zu den für Sandomierz zentralen Bereichen Gesundheitswesen und Bildung und einem kurzen Ausblick auf die zweite Hälfte des 19. und auf das 20. Jahrhundert rundet er die Darstellung ab.

Zwar sind zwischen den einzelnen Themenbereichen nicht immer klare Trennlinien möglich, wie auch Augustynowicz in seiner Zusammenfassung hervorhebt. Dies führt mitunter zu gewissen Redundanzen. Dennoch bietet die thematische Gliederung gegenüber einer rein chronologischen den Vorteil, die unterschiedlichen Arten von Grenzen und die jeweiligen Wirkungen von Herrschaft und Herrschaftswechseln genauer in den Blick nehmen zu können. Personen - oft von nur lokaler Bedeutung - begegnen im Laufe des Buches zahlreich. Ein Personenregister hilft jedoch dabei, den Überblick zu bewahren. Trotz mancher Unschärfen bietet das Buch somit einen guten Einblick und ein vielseitiges Bild lokaler Lebenswelten. Die Studie basiert auf der Auswertung eines umfassenden Quellenmaterials, insbesondere von Archivquellen der lokalen, regionalen und überregionalen Verwaltung, und verbindet in gelungener Weise sozial- und kulturwissenschaftliche Ansätze.

Dies schafft eine neue Perspektive auf die Grenzstadt Sandomierz als Mikroraum, den Augustynowicz in regionale, übergeordnete staatliche und gesamteuropäische Kontexte einordnet. Der gewählte Zeitraum erlaubt es, wichtige Zäsuren in der polnischen Geschichte zu thematisieren: die polnisch-litauische Periode nach der ersten Teilung Polens 1772, die österreichische Herrschaft in der Region nach der dritten Teilung 1795, die ereignisreiche Zeit der napoleonischen Kriege von der Bildung des Herzogtums Warschau bis zur russischen Besetzung und schließlich die kongresspolnische Periode vor und nach dem Novemberaufstand 1830/31. Diese Ereignisse bilden den Rahmen für die Frage nach makropolitischen Einflüssen auf die Grenzstadt. Zugleich ermöglicht die Mikroperspektive, Brüche und Kontinuitäten aufzuzeigen, die konventionelle Gliederungen in Frage stellen können.

Elisabeth Haid