Martin Heckel: Martin Luthers Reformation und das Recht. Die Entwicklung der Theologie Luthers und ihre Auswirkung auf das Recht unter den Rahmenbedingungen der Reichsreform und der Territorialstaatsbildung im Kampf mit Rom und den "Schwärmern" (= Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht; Bd. 114), Tübingen: Mohr Siebeck 2016, XIV + 988 S., ISBN 978-3-16-154211-4, EUR 69,00
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Sabine Arend / Gerald Dörner (Hgg.): Ordnungen für die Kirche - Wirkungen auf die Welt. Evangelische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts, Tübingen: Mohr Siebeck 2015
Christoph Strohm (Hg.): Reformation und Recht. Ein Beitrag zur Kontroverse um die Kulturwirkungen der Reformation, Tübingen: Mohr Siebeck 2017
Das Reformationsjubiläum im Jahr 2017 wurde von einer unüberschaubaren Anzahl an Neuerscheinungen in den unterschiedlichsten Gattungen begleitet. Unter ihnen ragt die monumentale Studie Martin Heckels über das Verhältnis von Luthers reformatorischer Lehre zu seinem Verständnis vom Recht heraus. Das Buch enthält nicht nur eine gründliche und umfangreiche Untersuchung der Auswirkungen der lutherisch ausgeprägten Theologie auf die Art und Weise, wie Recht zu definieren sei, sondern darüber hinaus auch die persönliche Reflexion eines 89-jährigen Gelehrten über den Stellenwert des Kirchenrechts heutzutage. Somit zieht das 988 Seiten umfassende Buch ein Fazit über das eigene Œuvre und die eigene Disziplin, stellt aber kein Vermächtnis dar, denn Heckel erwähnt im Vorwort zwei geplante Fortsetzungen: zunächst einen Band über die Rechtsentwicklung im Reich und in den Territorien bis zum Westfälischen Frieden und einen dritten Band über die Wandlungen des evangelischen Kirchenrechts und Staatskirchenrechts bis in die Gegenwart.
Das Buch ist insgesamt in 21 Kapitel unterteilt, die in einen Prolog und sechs weitere Teile (inklusiv Epilog) gegliedert sind. Die erste Frage, die Heckel behandelt, betrifft die Rolle des Rechts angesichts der Wahrheitsfrage. Im Zuge des konfessionellen Dualismus zerfiel die Rechtseinheit im Reich und beendete die bisher universale Geltung des kanonischen Rechts. Somit stellte sich die Frage nach dem gültigen Recht vor allem in seiner Regulierungs- und Schutzfunktion des Religions- und Landfriedens. Aber welche Offenbarungsreligion sollte fortan als Fundament für das Reichs- und Staatskirchenrecht dienen? Welche Konsequenzen hatte die Ablösung der geistlichen Universalität als Ordnungsprinzip durch die Partikularität der weltlichen Gewalten? Wie gingen die Theologen mit dem Konzept der Säkularisierung um? Heckel hebt hervor, mit welchen außerordentlichen Schwierigkeiten aufgrund der Auflösung der Rechtseinheit die zeitgenössischen Akteure (und vor allem die Juristen, die im römischen und kanonischen Recht ausgebildet waren) in der Auslegung und Handhabung des Rechts konfrontiert wurden.
Mit diesen grundlegenden Fragen an der Schnittstelle zwischen Rechts- und Kirchengeschichte, Theologie und Kirchenrecht leitet Heckel seine historische Darstellung des Einflusses der lutherischen Reformation auf die Entwicklung der kirchlichen Institutionen, die Festigung der evangelischen Obrigkeiten, auf die Politik und die Konflikte seiner Zeit und Luthers Umgang damit ein.
Für Martin Heckel kann die Reformationsgeschichte nur als Rechtsgeschichte verstanden werden, denn die lutherische Lehre hatte nicht nur theologische bzw. kirchliche, sondern auch politische Auswirkungen, die in Rechtsvorgängen, -formen und -normen zum Ausdruck kamen. Darüber hinaus wurden das Reich und die Territorien in ihren institutionellen, politischen und kirchlichen Organisationen sowie in ihren gegenseitigen Verhältnissen unter- und zueinander zutiefst erschüttert, am anschaulichsten durch die Verrechtlichung bzw. Institutionalisierung des evangelischen Glaubens im landesherrlichen Kirchenregiment (4). Die Entwicklung und Etablierung der Reformation als neue, alternative Konfession zu der bisherigen herrschenden römischen Kirche und die darauffolgende altgläubige / katholische Reaktion hingen von unterschiedlichen politischen, sozialen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, die nicht nur das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und die Landesterritorien, sondern Europa und das gesamte Staatensystem nachhaltig beeinflussten und dauerhaft (bis heute noch) prägten.
Dass Religion und Politik in der Frühen Neuzeit untrennbar voneinander waren, ist schon längst bekannt, jedoch bleiben in üblichen reformationsgeschichtlichen Studien die rechtlichen Ausdrucksformen und die Konsequenzen der Interessengegensätze der unterschiedlichen Akteure, die in Krisen, Kriegen und Friedensverträge mündeten, oft unterbeleuchtet. Als rechtliche Ausdrucksformen der Reformation werden oft nur die Kirchenordnungen zitiert. Auch das weltliche Recht gewann an Wichtigkeit, denn die Evangelischen und die Katholiken mussten - aufgrund der konfessionell gemischten Gemeinwesen des Alten Reiches - zusammenleben und dies, obwohl sie die Funktion und die Grenzen der weltlichen und kirchlichen Gewalten und Rechtsordnungen unterschiedlich definierten. Das weltliche Recht hatte deshalb vor allem die Funktion, gerade das Zusammenleben der Rechtsgenossen mittels Friedens- und Freiheitsgarantien zu sichern. Das konnte aber nur gelingen, wenn auf die Durchsetzung der Konfessionseinheit endgültig verzichtet wurde. Gerade die Entstehung eines konfessionsunabhängigen Verfassungsrechts macht die Reformationsgeschichte im Alten Reich mit ihrer Sonderlösung im Augsburger Religionsfrieden von 1555 einmalig.
Die Koexistenz der beiden offiziell anerkannten Konfessionen führte im Laufe der Zeit zur allmählichen Trennung der Kirchenrechtssysteme voneinander. Doch über ihre normativen Gegensätze hinaus hängen sie trotzdem voneinander ab, denn als weltliche Religionsrechte dienen sie beide als Schutz, Schranke und Freiheitsgewähr der Religionsausübung in einem säkularisierten Staat.
Nach 1555 und 1648 hat sich die konfessionelle Koexistenz - trotz andauernder juristischer Schwierigkeiten und Streitigkeiten - als rechtliche Normalität im Alten Reich schließlich durchgesetzt. Die "säkularisierte Rechtsidee" der Aufklärung definierte die rechtliche Gleichwertigkeit beider Konfessionen neu. Im 19. Jahrhundert wurde das Paritätssystem des Alten Reichs durch die pluralistische Glaubensgemeinschaft des modernen Verfassungsstaates ersetzt. Im Gegensatz zur französischen "Laizität" hat das heutige Deutschland das Religiöse aus dem staatlichen Rechtssystem, aus Kultur und Erziehung nicht ganz vertrieben. Die Religion bleibt bis heute noch Gegenstand der weltlichen Freiheitsgarantien und der staatlichen Rechtsordnung.
Im Mittelpunkt des Epilogs steht die Frage, "[w]elche Weisungen [...] aus Luthers monumentalem Werk für die Bewertung und Gestaltung des Kirchenrechts heute zu gewinnen" seien? (803) Als Antwort schildert (und bedauert) Heckel den Verlust der theologischen Dimension des Kirchenrechts in den Jahrhunderten nach Luther, und schließt mit einer sehr persönlichen Stellungnahme zu Luthers Lebensleistungen im Vorfeld des Gedenkjahrs 2017 ab (das Vorwort ist datiert "am Reformationsfest, 31. Oktober 2015").
Heckels Studie enthält einen umfassenden historischen Überblick über die vielfältigen und komplexen Implikationen der theologischen Erneuerungen (z.B. die Zwei-Reiche- und Zwei-Regimente-Lehre), die die Reformation mit sich brachte. Diese betrafen sowohl die Herausbildung und Institutionalisierung der evangelischen Landeskirchen, den Umgang mit neu auftretenden juristischen Fragen und die daraus entstandene neue Staatspraxis und Rechtslehre, eine neue Definition der Hierarchie der Rechtsquellen sowie den Konfessionalisierungs- und den späteren Säkularisierungsprozess des geltenden Rechts. Denn es ist das Verdienst von Heckels Studie, die Bedeutung des Rechts für den Reformator Luther hervorzuheben, dessen Meinung in Rechtsfragen stets gefragt wurde, und nicht nur in Kriegs- und Ehesachen. Somit eröffnet Martin Heckel mit seinem Meisterwerk neue und vielschichtige Perspektiven über Luthers Werdegang und darüber hinaus über die theologische und kirchenrechtliche Entwicklung des bi-konfessionellen deutschen Staates vom Anfang der Reformation an bis heutzutage.
Isabelle Deflers