Albert Gouaffo / Stefanie Michels (Hgg.): Koloniale Verbindungen - transkulturelle Erinnerungstopographien. Das Rheinland in Deutschland und das Grasland Kameruns, Bielefeld: transcript 2019, 243 S., ISBN 978-3-8376-4529-3, EUR 34,99
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Dieser Band ist hervorgegangen aus einer Projektpartnerschaft der Universitäten Düsseldorf und Dschang (in Kamerun). Im Rahmen der Kooperation untersuchten Studierende, Promovierende und Forscher*innen aus der Germanistik, Geschichtswissenschaft, Medien- und Kulturwissenschaft, Ethnologie und Kunstgeschichte fünf Jahre lang transkulturelle Erinnerungstopographien und koloniale Verbindungen zwischen dem Rheinland in Deutschland und dem sogenannten "Kameruner Grasland". Unter anderem sind aus dem Projekt heraus zwei überregional gut rezipierte Ausstellungen (2017 in Düsseldorf und 2018 in Dschang) organisiert und eine informative Website (http://deutschland-postkolonial.de) eingerichtet worden. Ein weiteres Ergebnis stellt neben Bachelor- und Masterarbeiten der nun publizierte Band dar. Bis auf die Aufsätze von Jasmin Grande und Britta Schilling stammen die Beiträge von acht Projektmitarbeiter*innen. Die Artikel verteilen sich auf drei Themenbereiche: "Regionen und Welten", "Koloniale Verbindungen" und "Erinnerung Transkulturell - Transdisziplinär". Da mich die ziemlich vage Aufteilung nicht wirklich überzeugt hat, folge ich bei meinen Besprechungen der einzelnen Artikel einer anderen Reihenfolge.
In einer ersten Rubrik sehe ich drei Texte, die theoretische Fragen stellen oder methodische Ansätze diskutieren. Den Beginn macht die erwähnte Jasmin Grande, stellvertretende Leiterin des An-Instituts "Moderne im Rheinland" der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Am Beispiel ihrer Einrichtung stellt sie vor dem Hintergrund des Spatial Turns eine Reihe von theoretischen und methodischen Überlegungen zur Erforschung von regionalen Räumen an. Das ist als Einführung ganz hilfreich. Die Frage bleibt jedoch, inwieweit nicht auch das "Rheinland" als Raumbegriff dekonstruiert und weitgehend aufgegeben werden sollte. Darüber hinaus fehlt der Bezug zum übergeordneten Thema des Bandes. Im Rahmen des Projektes ist unter der Leitung des von Martin Doll auch ein sehr interessanter Dokumentarfilm entstanden. In seinem Beitrag geht Doll auf konzeptionelle Überlegungen zur Überwindung einer eurozentrischen Sichtweise im Medium Film innerhalb eines transnationalen und transdisziplinären Verbundvorhabens ein. Obgleich filmische Strategien wie der Verzicht auf paradigmatische Bilder und die Anwendung eines perspektivierenden Relationismus möglich sind, kommt er zu dem Schluss, dass sich Ausstellungen besser dazu eignen, eine Multiperspektivität zu erzeugen. Die Komplexität kollektiver Erinnerung an kolonialzeitliche Ereignisse und Zusammenhänge in Kamerun wie auch in Deutschland steht im Vordergrund des Artikels von Alexander Ziem. Anhand eines Beispieles der in beiden Städten durchgeführten Interviews verdeutlicht er, dass "Erinnerungen in Bezug auf historisches Wissen zur deutschen Kolonialgeschichte [...] nicht vom interaktiven Ort ihrer Entstehung loslösen (lassen); sie erweisen sich vielmehr als orchestrierte diskursiv-situierte Praktiken, mit denen vergangene Ereignisse interaktiv verfügbar gemacht und thematisiert werden" (212).
Eine zweite Gruppe bilden vier Beiträge zu den Nachlässen von Franz Thorbecke (1875-1945) und seiner Ehefrau Marie Pauline (1882-1971). Franz Thorbecke leitete von 1911 bis 1913 eine Forschungsexpedition der Deutschen Kolonialgesellschaft in die Kolonie Kamerun, an der auch Marie teilnahm. Als Gegenleistung für einen Zuschuss von 10000 Mark für ihre Reise übergaben beide später der Stadt Mannheim eine große völkerkundliche Sammlung, die sich gegenwärtig in den dortigen Reiss-Engelhorn-Museen befindet. Etwa 30 weitere ethnographische Objekte, 443 Glasnegative, 166 Abzüge und ein umfangreiches Konvolut an Schriftstücken übergab Marie Thorbecke dem Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln. Franz und Marie Thorbecke haben nach ihrer Expedition eine Reihe von Büchern über ihre Erfahrungen veröffentlicht: Franz Thorbecke: Im Hochland von Mittel-Kamerun. 1 Teil. Die Reise. Eindrücke und Beobachtungen. Unter Mitarbeit von Marie Pauline Thorbecke und Leo Waibel. (Hamburg 1914); Franz Thorbecke: Im Hochland von Mittel-Kamerun. 2 Teil. Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes. (Hamburg 1916); Franz und Marie Pauline Thorbecke: Im Hochland von Mittel-Kamerun. 3 Teil. Beiträge zur Völkerkunde des Ost-Mbamlandes. Unter Mitarbeit von Theodor Mollison und Wilhelm Heinitz. (Hamburg 1919); Franz Thorbecke: Im Hochland von Mittel-Kamerun. 4 Teil. 1. Hälfte: Die Karte des Ost-Mbamlandes. Nach den Aufnahmen der Expedition und unter Mitarbeit von Wilhelm Bobzin. (Hamburg 1924); Franz Thorbecke: Im Hochland von Mittel-Kamerun. 4 Teil. 2. Hälfte: Physische Geographie des Ost-Mbamlandes. Hg. von Marie Pauline Thorbecke. (Hamburg 1951). Zudem hielt Marie Thorbecke ihre persönlichen Eindrücke in einem Diarium fest, das sie 1914 bei Mittler in Berlin unter dem Titel Auf der Savanne. Tagebuch einer Kamerun-Reise publizierte. Ein ausgezeichneter Quellenbestand also, dem sich die vier Autor*innen in unterschiedlicher Weise annähern. Während Albert Gouaffo anhand des Tagebuches, ihrer Zeichnungen, Fotografien und Illustrationen zu zeigen versucht, dass Marie Thorbecke "eine spezifische Art der Wissensproduktion und -vermittlung über das Grasland von Kamerun betrieb" (65), stellt Lucia Halder am Beispiel ihres fotografischen Nachlasses einige Überlegungen zur künftigen musealen Aufbereitung dieses Materials vor dem Hintergrund postkolonialer Debatten an. Die Biographie eines dem ersten Anschein nach unbedeutenden Objektes aus der "Sammlung Thorbecke 1911/12" des Reiss-Engelhorn-Museen zeichnet Yağmur Karakış nach. Es handelt sich um eine Raphia-Tasche, die die Thorbeckes von ihrer Expedition nach Kamerun mitgebracht hatten. Gebrauch, Beschaffung und Musealisierung des Bastbeutels werden sehr schön diskutiert, die kolonialen Bezüge und der koloniale Kontext überzeugend verdeutlicht und die fluiden zeitabhängigen Bedeutungszuschreibungen thematisiert. Omer Lemerre Tadaha unternimmt schließlich den Versuch, die von Bertrand Westphal in seinem Werk La Géocritique. Réel, fiction, espace (Paris 2007) vorgestellte "geokritische Methode" auf Franz Thorbeckes Im Hochland von Mittelkamerun. Teil 2. Anthropogeographie des Ost-Mbamlandes und auf Marie Thorbeckes Auf der Savanne anzuwenden. Aus der kurzen Untersuchung geht die imaginäre Konstruktion des "Kameruner Grasland" bezeichneten Raumes durch die beiden Autoren hervor. Grundsätzlich ergänzen die vier Beiträge unser Wissen um das Ehepaar Thorbecke und zeigen interessante Deutungsmöglichkeiten ihres Nachlasses auf. Gleichwohl hätte man sich ein wenig mehr Breite in der konkreten Analyse gewünscht. Zudem vermisst man eine Auseinandersetzung mit der vorliegenden Literatur, insbesondere mit Helen Tilleys Africa as a Living Laboratory: Empire, Development, and the Problem of Scientific Knowledge, 1870-1950 (Chicago 2011) und Carsten Gräbels Die Erforschung der Kolonien: Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884-1919 (Bielefeld 2015).
Zwei weiteren - mittlerweile recht bekannten - Personen aus dem Kontext der deutschen Kolonialgeschichte sind die Aufsätze von Richard Tsogang Fossi und Britta Schilling gewidmet: Eugen Zintgraff (1858-1897) und Hermann von Wissmann (1853-1905). Fossi geht es um die Rezeption der "Männerfreundschaft" zwischen Zintgraff und dem Herrscher von Bali, Galega I., in den beiden Romanen The White Man of God (1980) von Kenjo Jumban bzw. Zintgraff and the Battle of Mankon (2002) von Bole Butake sowie in dem von Godwi Nganah produzierten, offenbar von der Kameruner Regierung in Auftrag gegebenen mehrteiligen Film Zintgraff and the Battle of Mankon (2012). Die vermeintliche Freundschaft fungiert in den drei Quellen aus Kamerun als ein - sehr unterschiedlich - präsentierten und gedeuteten Erinnerungsort. Ebenso kontext- und zeitgeistabhängig ist in Deutschland die Erinnerung an Hermann von Wissmann. Britta Schilling führt uns das vor Augen, indem sie die unterschiedlichen Sichtweisen auf diese Persönlichkeit in der Kolonialzeit [Stichwort: Gedenkmedaille für "Deutschlands größten Afrikaner" (1905)], in der Zwischenkriegszeit [Stichwort: Gedenkbriefmarke (1934)] und in der heutigen Zeit [Stichworte: Wissmann-Straße in Düsseldorf-Unterbilk (2017)] skizziert.
Ein letzter Beitrag behandelt einen Ort, nämlich Düsseldorf. Stefanie Michels gibt uns einen Abriss der mannigfaltigen kolonialgeschichtlichen Verflechtungen der Stadt bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Trotz der vielen Bezüge unterschied sich Düsseldorf von anderen Städten ähnlicher Größe, da es weder eine Universität und wissenschaftliche Gesellschaften gab noch ein Völkerkundemuseum, eine staatliche Kolonialbehörde oder einflussreiche Missionsgesellschaften.
Alles in allem hinterlässt der Sammelband bei mir ein gemischtes Gefühl. Das Projekt, aus dem er entstanden ist, halte ich vom Ansatz her für wirklich wegweisend. Nur im Verbund mit Partner*innen kann eine wirklich multiperspektivische Aufarbeitung der Kolonialzeit, ihrer Vorgeschichte und ihrer Nachwirkung erreicht werden, die für eine reflektierte Gegenwartsbestimmung und eine gemeinsam Zukunftsprojektion notwendig ist. Andererseits sind die meisten der hier vorgestellten Einzelfälle meines Erachtens entweder theorieüberfrachtet oder untertheoretisiert. Beides verspielt das eigentliche Potenzial des Materials.
Stephan Conermann