Christoph Conrad / Sebastian Conrad (Hgg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002, 416 S., ISBN 978-3-525-36260-0, EUR 25,00
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Der Vergleich hinkt: Potenziell läuft zunächst einmal jeder Vergleich Gefahr, den betrachteten Phänomenen durch die Gegenüberstellung nicht gerecht zu werden. Vor dieser Gefahr ist natürlich auch der nicht gefeit, der sich dem Vergleich mit wissenschaftlicher Methodik und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse nähert. Bei einem so heterogenen Gegenstand wie der Geschichtsschreibung oder genauer der Deutung der eigenen und fremden Geschichte in nationalen Wissenschaftskulturen ist sie besonders groß, zumal das Gebiet in bestimmter Hinsicht fast noch einer Terra incognita gleicht. Wie der mit dem vorliegenden Band unternommene Vergleich verschiedener "nationaler" Historiographien zu zeigen vermag, lohnt es sich sehr wohl, sich zwischen der Scylla nicht gleichwertiger Vergleichsobjekte und der Charybdis unzulässig verallgemeinernder Schlussfolgerungen hindurchzuwagen. Die zwölf Beiträge, überarbeitete und zumTeil neu konzipierte Vorträge einer Tagung des Zentrums für Vergleichende Geschichte Europas in Berlin vom Juni 1999, bieten erste Ergebnisse und eine Reihe von weiterführenden Fragen. Sie führen somit nicht an einen Endpunkt, sondern vielmehr an den Ausgangspunkt für zahlreiche weitere Reisen ins Gebiet der Historiographiegeschichte und einer übergeordneten "intellectual history".
In einem einführenden Beitrag, der die Marschroute für die Abschnitte zu "Geschichte als nationale Projektion", zum "Inhalt der Form" und "Vergleich an der Grenze?" andeutet, skizzieren die Herausgeber das Forschungsfeld und die schon geleisteten Arbeiten. Die wichtigsten Vorzüge und Einschränkungen, denen der Historiographievergleich unterliegt, werden klar herausgearbeitet, eine Methodenkritik, die auf diesem Feld ganz besonders wichtig erscheint. Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass es sich bei der komparativen Betrachtung einer Geschichtsschreibung, die die Nation als Bezugspunkt gewählt hat, um ein lange Zeit von der Geschichtswissenschaft eher vernachlässigtes Feld handelt. Angesichts der Anforderungen, die eine solche Betrachtung zu erfüllen hat, erklärt sich schon ein Teil der Zurückhaltung. Sie beginnen bereits mit dem Anspruch, bei der Gegenüberstellung beiden beziehungsweise allen berücksichtigten Beispielfällen, den jeweiligen Zusammenhängen, Wirkungen und sozialen Kontexte wirklich gerecht zu werden. Sie setzen sich fort im kritischen Umgang mit dem Bezugsrahmen des Nationalen, der alles andere als homogen ist und dessen Anwendung Differenzen zu nivellieren droht. Unzulässig ist zudem, sich auf die nationale Geschichtsschreibung zu beschränken, da auch in anderen Kontexten, etwa in Biografien oder regionalgeschichtlichen Texten, Vergangenheit in nationale Geschichte umgewandelt wird. Der Möglichkeiten und Grenzen eingedenk kann der Vergleich dann Entstehungsbedingungen von nationaler Historiographie besser analysieren, die Auswirkungen von Geschichtsdeutungen im Kontext nationaler Identitätsbildung herausstellen und, eine entsprechende Rezeption vorausgesetzt, einer reflexiveren Geschichtsschreibung den Weg ebnen.
Die sich anschließenden elf Beiträge kommen in Abhängigkeit von der Forschungslage oder dem Entwicklungsstadium des jeweiligen Gegenstandes auf diesem Weg unterschiedlich weit voran. Sie beschränken sich, was eine bemerkenswerte und längst überfällige Ausweitung des Begriffs der Internationalität darstellt, nicht nur auf die Betrachtung verschiedener europäischer Länder unter Einschluss vielleicht noch der Vereinigten Staaten. Vielmehr findet außereuropäische Historiographie ebenfalls Beachtung - wenn auch noch nicht in einem Maße, das für die angestrebte vergleichende Geschichte der Geschichtsschreibung ausreichte. Den Weg über die zum Teil recht gut ausgebauten Pfade durch das europäische Territorium hinaus eröffnen vor allem zwei Beiträge. Andreas Eckert liefert eine Bestandsaufnahme jener Bedingungen, unter denen in Afrika, insbesondere in einzelnen exemplarisch untersuchten afrikanischen Ländern, nationale Geschichtsschreibung erfolgt. Sebastian Conrad kontrastiert die westdeutsche und japanische "Vergangenheitsbewältigung" in der Geschichtswissenschaft nach 1945 und macht dabei als Hauptunterschied verschiedene Grundlagen des Konzepts von der Nation aus, die Geografie hier, die soziale Struktur dort. Die Gesamtheit der Untersuchungen lässt erkennen, welche unterschiedlichen Aspekte mit dem Ansatz zusammengeführt werden können. Denn unterhalb der Ebene des Vergleichs von Nationalhistoriographien gibt es noch eine Vielzahl von untergeordneten - aber nicht minder bedeutsamen - Ebenen, die sich für den Vergleich anbieten: verschiedene Teildisziplinen, Schulen, Erzählstrukturen, etwa "master narratives" wie die Herausbildung der Nation oder Modernisierung, Historikerinnen und Historiker und schließlich ihre Werke. So lässt etwa Paul Noltes Analyse der Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte aus der Feder von Thomas Nipperdey und Hans-Ulrich Wehler zahlreiche Gemeinsamkeiten der beiden Werke und Kontinuitätslinien zur älteren deutschen Geschichtsschreibung aufscheinen. Das führt unmittelbar zu der Frage, ob sich Ähnliches für die Geschichtswissenschaft anderer Länder feststellen lässt - ein Pfad, der künftig weiter verfolgt werden sollte.
Dass die Untersuchungen zum Umgang mit nationaler Geschichte mitunter nur tentativen Charakter besitzen können, wird besonders im Blick auf die Länder Ostmitteleuropas offensichtlich. Wenn Franz Hadler der außergewöhnlichen Fixierung auf die nationale Geschichte in Tschechien, Polen und Ungarn nach 1945 nachgeht, kann er zunächst nur "Erkundungsgänge" anbieten. Trotz einiger Vorarbeiten liegen für den systematischen Vergleich noch zu wenig Erkenntnisse vor. Noch offener müssen die Aussagen über den veränderten Umgang mit der eigenen Geschichte formuliert werden, der Politik und Öffentlichkeit in Russland seit dem in den achtziger Jahren initiierten Wandel beschäftigt. Mit unterschiedlicher Intensität und Schwerpunktsetzung äußerte sich dort seit der Implementierung von Glasnost ein Interesse an der russischen Vergangenheit, das Jutta Scherrer mit dem Wort von der "Sehnsucht nach Geschichte" treffend beschreibt. Ging es anfangs um die Abrechnung mit den Verbrechen der Stalin-Ära, sozusagen um die Reintegration des Stalinismus ins öffentliche Gedächtnis, so rückte ab etwa 1990 das vorrevolutionäre Russland in den Mittelpunkt. Während zur Amtszeit Boris Jelzins die Politik eine am Zarenreich orientierte "russische Idee" als Integrationsmittel mobilisierte, kommt in der gegenwärtigen Regierung Wladimir Putins die Sowjetzeit zu neuen Ehren, geschönt und auf das Ideal des starken Staates hin orientiert, so dass parallel dazu die Berufung auf die zaristische Geschichte weiterhin möglich ist. Angesichts der Aktualität von Transformationsprozessen und der Unsicherheit darüber, welche Tendenzen sich verfestigen, welche verschwinden werden, kann die Systematisierung noch nicht geleistet werden. Bleibt zu hoffen, dass sich aus den hier zusammengeführten Ergebnissen weitere Arbeiten zur russischen Geschichtsschreibung ergeben, die sich dann mit ähnlichen Studien zu anderen post-kommunistischen Ländern Europas vergleichen lassen. Ansätze zu weiterführenden Forschungen finden sich in diesem Beitrag, wie letztlich allen Beiträgen dieses anregenden Bandes, in großer Zahl. Sie müssen 'nur' noch aufgegriffen werden.
Angela Schwarz