Cord Pagenstecher: Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual history: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950-1990 (= Studien zur Zeitgeschichte; Bd. 34), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2003, 559 S., ISBN 978-3-8300-1076-0, EUR 128,00
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Wir kennen sie alle: die bunten Postkarten, die vieles versprechenden Reiseführer, die Kataloge der Tourismusindustrie und die liebevoll gestalteten Fotoalben mit Aufnahmen von den "schönsten Wochen des Jahres", die über das familiäre Erbe oder den Umweg über Flohmärkte in unsere Hände gelangen. Gerade die Alben mit ihren oftmals rasch abgeknipsten Motiven und den im Vergleich dazu aufwändigen Gestaltungen bis hin zur eingeklebten Fahrkarte oder Blüte enthalten so manches, was sich auf den ersten Blick gar nicht offenbart. Man muss öfter beziehungsweise genauer hinschauen und sich den Zugang zu den verborgenen Bedeutungsebenen selbst verschaffen.
Geringe Wertschätzung, Probleme bei der Erschließung des Bestandes und methodische Schwierigkeiten mögen dazu beigetragen haben, dass die Karten, Kataloge und Alben bislang noch nicht im Mittelpunkt einer größeren kultur- oder geschichtswissenschaftlichen Untersuchung gestanden haben. Dabei bieten sich die Materialien geradezu an für eine eingehende Beschäftigung mit dem Phänomen des Massentourismus, die sich mehr als je zuvor möglich auf Fragen des Sehens und Wahrnehmens konzentrieren könnte. Hier liegt der Ansatzpunkt der vorliegenden Dissertation, die bislang unberücksichtigte Quellenarten nutzt, um eine "Visual History" des Massentourismus von den Fünfzigerjahren bis in die Achtziger zu entwerfen. In dieser Bearbeitung kaum beachteter Quellenarten, die übrigens zum größten Teil dem von Hasso Spode betreuten Historischen Archiv zum Tourismus an der Freien Universität Berlin entstammen, ist zugleich ihr größter Verdienst zu sehen.
Der bundesdeutsche Nachkriegstourismus ist bisher mehr als Objekt nostalgischer Rückblicke oder spöttischer Betrachtungen in den Blick geraten. In der Geschichtsschreibung der jungen Bundesrepublik erscheint er, wenn überhaupt, als Ausdruck wiedergewonnener ökonomischer Stärke oder eines wachsenden Selbstbewusstseins seiner Bevölkerung. Cord Pagenstecher hingegen nutzt die visuellen Quellen in überzeugender Weise, um ihn, seine Formen und Bilder, vor allem das Fremd- und Selbstbild der Reisenden und Bereisten, die damit verknüpften Leitvorstellungen und Mentalitäten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges herauszuarbeiten. Dazu geht er von der Annahme aus, dass touristische Aktivität in erster Linie im Sehen bestehe, der Blick folglich konstitutiv für Tourismus sei. Leitlinie seiner Analyse bildet folglich die Frage nach dem Charakter des in einzelnen Phasen bestimmenden "touristischen Blicks". In Anlehnung an John Urry lässt sich darunter ein distanzierter, neugieriger, belustigter Blick verstehen, der postmoderne Wahrnehmungsmuster vorbereitet habe. Dominierte also zwischen 1950 und 1990 der bildungsbürgerliche "romantische Blick", den Hans Magnus Enzensberger in seinem für die Tourismusforschung noch immer relevanten Essay von 1958 als Leitbild des traditionellen bürgerlichen Reisens herausstellte? Oder wurde er im Übergang zum Massentourismus und der Öffnung des Reisens für weitere Schichten ersetzt durch eine neue Leitvorstellung, durch den "geselligen Blick" - John Urry spricht vom "collective gaze" -, der sich mehr an Vergnügen orientiert?
Um Tourismus als visuellen Symbolkonsum untersuchen zu können, für den die Prägung und Rezeption bestimmter Bilder maßgeblich ist, gehört es zu den Grundlagen, nicht nur Theorien über den (Massen-)Tourismus und den touristischen Blick, sondern ebenso über Fotografie und die Methoden ihrer Erschließung einzubeziehen. Ikonografie und Ikonologie spielen deshalb eine ebenso große Rolle wie die Frage nach der Möglichkeit, Methoden der Geschichtswissenschaft wie die der Oral History auf das Bildmaterial anzuwenden (Kapitel 2). Die im dritten Kapitel vorgestellten Diskurse über Urlaubsreisen der Nachkriegsdekaden und die quantitativen Aspekte des massenhaften Reisens lassen sich ebenfalls dem Bereich der Voraussetzungen zuordnen. Im Mittelpunkt steht die detaillierte Beschäftigung mit den touristischen Medien (Kapitel 4), das heißt Tourismuswerbung, Reiseführer und Urlaubsfotos, den charakteristischen Tourismusarten seit den Fünfzigerjahren (Kapitel 5), das heißt Alpen-, Stadt- und Strandtourismus, und einem geschlossenen Bestand von 45 Fotoalben eines Berliner Ehepaares, die in einer Fallstudie als Reisebiografie gelesen und ausgewertet werden (Kapitel 6). Dabei macht gerade die Fallstudie mit ihrer sorgfältigen Erarbeitung von individuellen Besonderheiten und übergreifenden Entwicklungstrends die Chancen und Grenzen des Ansatzes deutlich. Zu Recht wird darauf verwiesen, dass weitere intensive Studien nötig sind. Zu Recht rückt das "Knipseralbum" als interessante und aussagekräftige Quelle ins Bewusstsein, das - bis zu einem gewissen Grad - persönliche Wahrnehmung ebenso widerspiegeln kann wie die Art, in der vermittelte Leitbilder rezipiert wurden.
Belegen die Alben, die Reisen in die Alpen, die Großstädte oder an den Strand und die Tourismuswerbung die These von einer Ablösung des "romantischen" durch den "geselligen Blick"? Pagenstecher kommt zu einem anderen Ergebnis. Zwar habe es im Hinblick auf die Veränderungen des Tourismus zwei unterscheidbare Phasen gegeben: die erste bis zum Ende der Sechzigerjahre mit einem quantitativen Take-Off, also dem Beginn einer Reisewelle, die zugleich eine Ausweitung der fotografischen Bewahrung des Gesehenen mit sich brachte, und eine zweite ab den Siebzigerjahren, die mit ihrem qualitativen Sprung nachhaltig auf die Leitbilder einwirkte. Obwohl in der zweiten Phase der "gesellige Blick" als Leitvorstellung vorherrschte, blieben die traditionellen bildungsbürgerlichen Ideale doch erhalten, wenn auch mit geringerem Einfluss.
Das sind einige der wichtigen Ergebnisse der Arbeit, die sich damit als Ausgangspunkt für weitere Studien ausweist. So sind bislang die pauschalen Studienreisen der Fünfziger- und Sechzigerjahre noch nicht untersucht. Wie veränderte sich außerdem das Selbstverständnis der Tourismusbranche, der in ihr Beschäftigten? Wie wandelten sich die Reisenden, die sich die Rolle des Touristen erst nach und nach aneignen mussten? Die Arbeit bietet auch mit ihrem Entwurf einer "Visual History" des Tourismus Ansätze für den Ausbau eines Themas. Angesichts ihrer Vorzüge lässt sich über die Redundanzen und eine mitunter etwas zu eindringliche Führung der Leserschaft hinwegsehen. Schließlich wird hier der Blick auf die Sehenswürdigkeiten eines weitgehend noch unerschlossenen Gebietes gelenkt, das nicht nur die deutsche, sondern ebenso die europäische beziehungsweise westliche Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte seit 1945 umschließt.
Angela Schwarz