Rezension über:

Thomas Rudert / Hartmut Zückert (Hgg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert) (= Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, XVI + 453 S., ISBN 978-3-412-04601-9, EUR 50,00
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Rezension von:
Ursula Löffler
Hannover / Halle/S.
Redaktionelle Betreuung:
Michael Kaiser
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Löffler: Rezension von: Thomas Rudert / Hartmut Zückert (Hgg.): Gemeindeleben. Dörfer und kleine Städte im östlichen Deutschland (16.-18. Jahrhundert), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2 [15.02.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/02/2597.html


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Thomas Rudert / Hartmut Zückert (Hgg.): Gemeindeleben

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Der vorliegende Band eröffnet eine neue Reihe, deren Ziel es ist, Themen von geschichtlicher Relevanz für die ländliche Gesellschaft zu bearbeiten. Sie folgt damit einem wichtigen Schwerpunkt der Frühneuzeitforschung in Potsdam, der vor allem von Jan Peters seit vielen Jahren erfolgreich gesetzt wird. Das Ziel des Bandes ist es, die Handlungsspielräume und den Grad der Autonomie der dörflichen und kleinstädtischen Gemeinden auszuloten. Es geht um die Stellung der Schulzen im Dorf, die Rolle der ländlichen Gemeinde im Verbreitungsgebiet der Gutsherrschaft und um die verfassungsrechtliche Bedeutung der Gemeinde. Neben diesen Fragestellungen, die zwar keineswegs neu, aber ebenso wenig abschließend geklärt sind, gilt die Aufmerksamkeit der Funktion der kleinstädtischen Kommune im ländlichen Raum und den Übergangsformen zwischen Dörfern und kleinen Städten.

Am Anfang der beiden thematischen Blöcke stehen Überblicksartikel zur Forschung über Dorf, Gemeinde und kleine Städte (Hartmut Zückert und Thomas Rudert). Als besondere Zugabe finden sich am Ende des Buches ein Artikel, der die Entwicklung der kommunalen Strukturen einer Kleinstadt bis ins 19. Jahrhundert verfolgt (Gerhard Heitz), der Versuch, die Kommunikation zwischen Stadt und Land im Spiegel von Taschenkalendern nachzuvollziehen (Dagmar Böcker), sowie ein Exkurs über die Ausübung und Bedeutung von Ehrenämtern im Templin des 19. Jahrhunderts (Peter Franke).

Aus der Lektüre des ersten Teils zur Landgemeinde geht deutlich hervor, dass die Handlungsspielräume der dörflichen Gemeinden einander sehr ähnlich waren, während sie sich in der Struktur zum Teil regional voneinander unterschieden. Die Gemeinde wurde als rechts- und geschäftsfähige Korporation angesehen. Gemeindeversammlungen wurden regelmäßig, zumindest aber ohne Einflussnahme der Herrschaft abgehalten. Das Versammlungsrecht war nur dann gefährdet, wenn die Gemeinde oder das Dorf als Ganzes Konflikte mit dem Dorfherrn erlebte. Drei Aufgabenbereiche fielen der Gemeinde vor allem zu: die Abgrenzung nach außen, die Organisation des dörflichen Zusammenlebens und eine unterschiedlich stark ausgeprägte staatliche Funktion (Bernd Schildt, Jan Klußmann, Hartmut Zückert).

Eine wichtige Person im Dorf war der Schulz. Seine Aufgaben umfassten Bereiche mit einem deutlichen Bezug zur Gemeinde, solche, in denen gleichzeitig dörfliche und herrschaftliche Interessen bestanden, und schließlich Bereiche, die einer herrschaftlichen Funktionalisierung entsprachen und daraus resultierten, dass er mit Herrschaftsrechten ausgestattet wurde. Besondere Betonung findet auch hier die in der Forschung zur ländlichen Geschichte gebetsmühlenartig wiederholte "Janusköpfigkeit" des Schulzen. Er lässt sich nicht wie die anderen Bewohner ländlicher Gegenden eindeutig der herrschaftlichen oder dörflich-untertänigen Seite zuordnen, sondern gehört immer zu beiden Seiten. So war es möglich, dass bestimmte Schulzen sich ganz auf die Seite der Herrschaft schlugen (Jan Peters), während andere sich in den Interessen der Gemeinde wieder erkannten und diese stützten, wiewohl sie von der Herrschaft als ihr verlängerter Arm im Dorf verstanden wurden (Lieselott Enders).

Schulzen hatten bei stets ähnlichen Aufgaben je nach Region sehr unterschiedliche personen-, erb- und besitzrechtliche Positionen. Es gab persönlich freie Frei- oder Lehnschulzen, die bis zu vier Hufen Land abgabenfrei nutzen konnten. Andererseits gab es zeitlich befristet agierende Schulzen, die für die Zeit ihrer Amtsausübung ein Stück Land zur freien Nutzung erhielten und sich kaum von den sie umgebenden Bauern unterschieden (Thomas Rudert, aber auch Peters, Enders). Neben den Schulzen waren es in vielen Dörfern die so genannten Ältesten, die der Dorfherrschaft in formalen Rechtsfragen gegenübertraten und Konflikte im Dorf regeln konnten. Mit Schulz, Gemeinde und Ältesten werden im vorliegenden Band die wichtigsten dörflichen Institutionen erläutert.

Trotz zum Teil ausgesprochen starker Einflussnahme der Grund- oder Gutsherren auf das Dorf konnte eine grundlegende Gemeindeautonomie nicht gebrochen werden. Sie nutzten Handlungsoptionen, die sich auf Grund ihrer Flexibilität und ihrer Fähigkeit ergaben, um die gemeindlichen Finanzen und die agrarwirtschaftlichen Aspekte des dörflichen Lebens zum großen Teil eigenständig zu verwalten. "Gemeinde" existierte nicht nur als Institution, sondern auch als Prinzip bäuerlicher und unterbäuerlicher Gruppen. Dafür sprechen die bäuerlichen Gilden Schleswig-Holsteins ebenso wie die brandenburgische Kirchengemeinde (Hartmut Zückert, Jan Klußmann). Dieses Prinzip begründete einen starken inneren Zusammenhalt, wenn von außen Konflikte an das Dorf herangetragen wurden.

Eine Landgemeinde konnte ohne den Gegenpart der Herrschaft nur schwer existieren: Gemeinden, die ihre eigene Herrschaft ausgekauft hatten und nun bei Streitigkeiten auf beiden Seiten der Gerichtsschranke saßen, stießen auf immense Schwierigkeiten. Es fehlte die Zeit, aber auch das juristische Wissen, um rechtliche Probleme autonom bewältigen zu können. Zum Prinzip der Gemeinde gehörte daher immer auch das der Herrschaft, die der Autonomie der Gemeinde feste Grenzen setzte.

Kleinstädte unterschieden sich häufig nur durch ihre rechtliche Lage von einem Dorf. Dies rief bei den Einwohnern zwar ein bürgerliches Selbstbewusstsein hervor, gleichwohl stand die Reibung mit der Herrschaft aber auch für kleine Städte im Vordergrund ihrer Existenz. Sie mussten im 18. Jahrhundert zunehmend um ihre Selbstbestimmungsrechte und Privilegien sowie gegen Diensterhöhungen kämpfen und waren darin den Dörfern sehr ähnlich. Ebenso waren die inneren Konfliktkonstellationen, die sich in einer Stadt entwickeln konnten, denen zwischen Bürgerschaft und Stadtherrn untergeordnet (Lieselott Enders, Frank Göse, Alexander Kessler).

Die kleinen Städte hielten landesherrliche Ansprüche soweit es ging zurück, konzentrierten sich auf die regionale Wirtschaft und betonten den Kontrast zu den umliegenden Dörfern durch ein ausgeprägtes bürgerliches Selbstbewusstsein. Ihre Handlungsoptionen waren begrenzt durch die wirtschaftliche und politische Übermacht der großen Städte, durch den Einfluss des Landesherrn auf ihre Administration und die landesherrlichen Bestrebungen zur Zentralisierung. Die Kleinstädte waren agrarisch geprägt. Allerdings reichten die Erträge der Landwirtschaft bei wachsenden Einwohnerzahlen auf Dauer nicht für den Lebensunterhalt aller Einwohner aus. Sie waren daher gezwungen, für sich einen Raum zu finden, in dem trotz der äußeren Beschränkungen Wachstum für sie möglich war. Dies gelang durch eine Orientierung auf das ländliche Gebiet und den Vorstoß in wirtschaftliche Nischen.

Kleinstädte konnten eine wichtige wirtschaftliche Rolle in einer Region übernehmen. Sie spezialisierten sich auf den Handel mit bestimmten Gütern oder auf bestimmte Arten des Transportes und nutzten auf diese Weise sich ergebende Marktlücken aus. Sie waren ein wichtiges Element im System der Tages-, Wochen- und Jahrmärkte. Zwar erreichten sie nie die wirtschaftliche Bedeutung größerer Städte, verkrafteten dafür aber insgesamt den wirtschaftlichen Niedergang während der Frühen Neuzeit besser als andere Städte. Ihre relative Benachteiligung gegenüber den größeren Städten lag vor allem in ihrem Unvermögen, sich in landespolitischer Hinsicht als eine Kraft neben den großen Städten und dem Adel zu etablieren (Heidelore Böcker, Gerhard Heitz). Grundsätzlich waren die Übergänge zwischen Dörfern und Kleinstädten fließend. Wo jedoch eine Stadt grundherrliche Funktionen hatte, trug sie zur Entstehung der Gutsherrschaft bei, indem sie sich genauso um eine stärkere Ausnutzung der Arbeitsrenten ihrer Untertanen bemühte wie die bürgerlichen und adeligen Grundherren auch (Dirk Schleinert).

Dieser Sammelband eignet sich vor allem deshalb als Einstieg in die frühneuzeitliche ländliche Geschichte des östlichen Deutschland, weil er auf besondere Weise Unterschiede und Übereinstimmungen von ländlichen wie kleinstädtischen Gemeinden hervorhebt. Die wichtigen Aspekte des Gemeindelebens werden genannt, es gibt keine ausschließliche Konzentration auf einen bestimmten Gemeindetyp. Insgesamt wird ein umfassender Eindruck von den Bedingungen, denen Kleinstädte und Dörfer in der Frühen Neuzeit unterworfen waren, vermittelt. Den Leserinnen und Lesern, die mit diesem Gebiet der Forschung intensiver bekannt sind, wird allerdings auffallen, dass nicht alle Darstellungen und Erkenntnisse neu sind.[1]

Anmerkung:

[1] Während die Geschichte der ostelbischen Kleinstädte meines Wissens bis dato tatsächlich ein Forschungsdesiderat darstellte, gibt es zur Geschichte des frühneuzeitlichen ostdeutschen Dorfes bereits einige Untersuchungen. Das schmälert nicht die grundsätzlich sehr gute Qualität der Darstellungen im Sammelband. Von den am hier rezensierten Sammelband beteiligten Autorinnen und Autoren siehe beispielhaft einige Aufsätze aus: Jan Peters (Hg.): Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Band 120), Göttingen 1995. Ders. (Hg.): Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (= Historische Zeitschrift Beiheft 18), München 1995. Weiterhin zu diesem Thema unter anderem Lieselott Enders: Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129 (1993), S. 195-256. Dies.: Produktivkraftentwicklung und Marktverhalten. Die Agrarproduzenten der Uckermark im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1990/3, S. 81-105. Jan Klußmann: "Sie würden eher nicht schweren, bis sie ihre Herrschaft gesehen". Herrschaftsbeziehungen in ostelbischen Gebieten im Spiegel der Untertanenhuldigung, in: Historische Anthropologie 6 (1998), S. 33-54. Bernd Schildt: Bauer - Gemeinde - Nachbarschaft. Verfassung und Recht der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit, Weimar 1996. Hartmut Zückert: Die brandenburgische Landgemeinde bis zum Dreißigjährigen Krieg, ihre Organe und Kompetenzen, in: Heinrich Richard Schmidt / André Holenstein / Andreas Würgler (Hg.): Gemeinde, Reformation und Widerstand. Festschrift für Peter Blickle, Tübingen 1998, S. 25-42.


Ursula Löffler