Wolfgang Huschner: Transalpine Kommunikation im Mittelalter. Diplomatische, kulturelle und politische Wechselwirkungen zwischen Italien und dem nordalpinen Reich (9.-11. Jahrhundert) (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften; Bd. 52), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2003, 3 Bde., LXII, VI, VIII + 1050 S., 132 S. Abb., ISBN 978-3-7752-5752-7, EUR 150,00
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Die Berliner Habilitationsschrift von Wolfgang Huschner untersucht die Wechselwirkungen zwischen dem süd- und nordalpinen Herrschaftsbereich vorrangig der Ottonen unter Berücksichtigung der frühen Salier. Die Grundlage seiner Untersuchung bilden die Diplome der Herrscher. Dieser diplomatische Ansatz wird mit einem prosopografischen gekoppelt, der die Schreiber der Urkunden in den Vordergrund rückt. Hatten bereits die philologisch ausgerichteten Forschungen von Hans-Henning Kortüm [1] den Einfluss der Empfänger bei der Ausfertigung von Papsturkunden erwiesen, fordert Huschner nun auch für die Königsurkunden "eine Neubewertung der Relation von 'Kanzlei'- und Empfängerausfertigung" (41). Dazu dienen Huschner vorrangig paläografische Untersuchungen. Um diese nachvollziehen zu können, ist den beiden Textbänden ein Abbildungsband beigegeben, auf den Marginalien in den beiden ersten Bänden immer wieder verweisen. Huschner verdeutlicht durch seine Arbeit den großen Einfluss der Empfänger auf die Urkundenausfertigung und lässt die bisherige Lehre von einer hierarchisch organisierten Kanzlei, die die Beteiligung der Empfänger an der Urkundenausfertigung eher als die Ausnahme betrachtet, fraglich erscheinen: "Der Anteil der Empfänger- und Gelegenheitsnotare an der inhaltlichen und graphischen Herstellung der ottonischen Diplome dürfte deutlich höher gelegen haben, als er sich nach der Zuweisung der Editoren darstellt" (144). Und ebenso wie Kortüm für die Produktion der Papsturkunden lieber nicht von einer "Kanzlei" sprechen möchte, schlägt Huschner vor: "Vielleicht sollte man den irreführenden Wissenschaftsbegriff der 'Kanzlei', der das relativ bescheidene Niveau der Schriftlichkeit und deren Organisation im nordalpinen Reich außerhalb Lothringens und in vielfältigen Varianten der südalpinen Urkundenproduktion im 10. und 11. Jahrhundert so gar nicht widerzuspiegeln vermag, für die Zeit des frühen Mittelalters überhaupt aufgeben" (47 f.). Auch habe es in der Ottonenzeit keine italienische Kanzlei gegeben, die ausschließlich auf diesen Raum beschränkt gewesen sei (222). Die Urkundungspraxis sei nicht von einer hierarchisch organisierten Behörde vollzogen worden (besonders 200 ff.), sondern von Notaren mit unterschiedlichem regionalem Wirkungsbereich, die Huschner in fünf Gruppen einteilt: überregionale (oder auch imperiale) Hofnotare, regionale Hofnotare, regionale Empfängernotare, lokale Empfängernotare und Gelegenheitsnotare (48 ff.). Doch wer waren diese Schreiber? Huschner kann aufgrund paläografischer Untersuchungen etliche von ihnen identifizieren. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, dass die Notare keineswegs von niederer sozialer Stellung waren, sondern dass sich hinter ihnen oft hochrangige Persönlichkeiten verbargen, die sich nicht scheuten, Urkunden selbst zu schreiben und zu gestalten. Huschner identifiziert den Italiener B mit dem italienischen Erzkanzler, Bischof Hubert von Parma (104-112), den Italiener D mit Bischof Ambrosius von Bergamo (113 f.) und schlussfolgert: "Vor allem aber dürfte die Vorstellung von dem niedrigen sozialen Status der Hofnotare und der postulierten Geringschätzung der graphischen Produktion von Diplomen durch die Zeitgenossen über Bord zu werfen sein" (115). Sie stammten vielmehr durchaus auch aus höheren Schichten, und für ihren Zugang zur Hofkapelle galten für südalpine Notare keine anderen Regeln als für nordalpine (589-591).
Die Identifizierung weiterer Notare, von denen einige prominente Beispiele herausgegriffen seien, verdeutlicht dies: So verbirgt sich hinter dem Italiener L Johannes Philagatos (129 ff.), hinter Heribert D Hugo von Cluny (142 ff.). Brun A ist Erzbischof Brun von Köln (150 ff.), Hildibald B der Kanzler Hildibald von Worms (168 ff.), der sich auch hinter Hildibald F versteckt (175 ff.), Heribert C Heribert von Köln (182 ff.) - womit Hildibald von Worms zu einem Schüler Heriberts von Köln wird. Hinter Liudolf F verbirgt sich nach Huschner Liudprand von Cremona (510 ff.), hinter Liudolf H Adalbert von Magdeburg, der damit nicht aus dem Kölner Raum stammt, sondern Mönch in St. Maximin in Trier war (661 ff.), hinter Heinrich A Kanzler Heinrich von Parma, der somit süditalienischer Provenienz war (821 ff.), und hinter Egilbert D Bischof Eberhard von Bamberg, der mit Eberhard von Como gleichzusetzen sei (831ff.). Willigis B identifiziert Huschner mit keinem anderen als Erzbischof Willigis selbst (160 ff.), wobei auch hier das entscheidende Moment der Zuweisung im paläografischen Vergleich liegt. Dabei werden die vor 975 von Willigis B ausgefertigten Schriftstücke mit der Unterschrift des Mainzer Erzbischofs unter das Frankfurter Synodalprotokoll von 1007 verglichen, dem einzigen Schriftzug, den wir sicher dem Mainzer Metropoliten zuweisen können.
Doch damit ist nicht nur die Identifizierung von Notaren gelungen, sondern die bisherige Auffassung vom Anteil der Urkundenschreiber an Inhalt und Gestaltung der Diplome in Frage gestellt. Nicht niedere Kanzleibeamte, die Sickel als "Ingrossisten" bezeichnete, haben die königlichen Urkunden verfertigt, sondern herausragende Personen des ottonischen Herrschaftsgefüges, Bischöfe und sogar Erzbischöfe. Diese Erkenntnis hat weit reichende Folgen. So ist das Bild vom Diplom als Zeugnis des authentischen Herrscherwillens fraglich geworden: "Vielmehr wird die Entscheidung über die inhaltliche und formale Gestaltung der Diplome im Regelfall von der Person des Herrschers weg auf die Schultern der hochrangigen Notare verlagert" (201). Die Urkunde ist damit nicht nur eine Repräsentation herrscherlichen Willens und des Herrschers selbst, sondern auch der Urkundenaussteller (909). Zur Frage der Herrschertitel konstatiert Huschner: "Weder Otto I. noch Otto II. oder Konrad II. dürften aufgrund ihres Bildungsstandes und -profils mit den verschiedenen Titeln und Epitheta inhaltlich-konkret etwas anzufangen gewußt haben" (206). Und auch bei gebildeteren Herrschern sei der Einfluss der Notare nicht zu unterschätzen. Das gelte sowohl für den Titel Theophanius imperator augustus, den Huschner mit Johannes Philagatos in Zusammenhang bringt (325 f.), als auch für den viel erörterten Titel des servus jesu christi Ottos III., dessen Kreation Huschner Heribert von Köln zuschreibt (375 ff.).
Die Zuweisung der gesichtslosen Notarssiglen an Hauptakteure der ottonischen Politik lassen nicht nur politische und kirchenpolitische Akte in einem neuen Licht erscheinen, sondern liefern neue Erkenntnisse über zentrale Figuren wie Liutprand von Cremona (510-623). Auch die Rolle des zukünftigen Magdeburger Erzbischofs Adalbert bei der Errichtung dieses Erzbistums, der sich hinter Liudolf H verbirgt, ist nun zu fassen. Denn er lieferte die Diktatvorlage für die fünf Schenkungsurkungen zu Gunsten des neuen Erzbistums, die Otto I. und Otto II. am 2. und 3. Oktober 968 ausstellen ließen. Zwei schrieb Liudolf H-Adalbert komplett selbst, eine andere versah er lediglich mit dem Eingangsprotokoll. Auch sein Nachfolger, Giselher, den Huschner mit Liudolf I identifiziert, verfasste selbst Urkunden für Magdeburg. In diesem Zusammenhang konstatiert Huschner eine größere Fälschungsaktion, zu der Giselher sich aufgrund der "radikalen Reduzierung der Magdeburger Kirchenprovinz und die neue brisante Situation nach dem Slavenaufstand von 983" (781) genötigt sah, um seine schwierige Situation gegenüber dem Domkapitel zu entschärfen. Zu den von Giselher verfassten Urkunden stellt er fest: "Prüft man beispielsweise alle im Original tradierten Urkunden Ottos I. für Magdeburg, die von Liudolf I verfaßt und geschrieben wurden, so fragt sich, ob überhaupt eine von ihnen in der angegebenen Regierungszeit ausgestellt wurde" (775).
Insgesamt kann Huschner aber nicht nur die Beteiligung von Einzelpersonen an herausragenden Vorgängen belegen und diese neu beleuchten, sondern durch diese Identifikation von Notaren auch die personelle Klammer zwischen dem süd- und nordalpinen Bereich im ottonischen Reich ausgewogener darstellen. Dominierte bisher die Nord-Süd-Perspektive und fragte die Forschung nach der Besetzung von Bistümern in Italien mit Geistlichen nordalpiner Provenienz, gelingt es Huschner, den bedeutenden Beitrag der südalpinen Sphäre zum kulturellen und politischen Leben des nordalpinen Reiches deutlich zu machen. So ist beispielsweise der Naumburger Bischof und Kanzler Kadeloh (Kadeloh A) südalpiner Provenienz (901). Und dabei ist Kadeloh nach Huschner nicht der einzige italienische Geistliche auf einem Bischofsstuhl nördlich der Alpen. Ferner nennt er Rudolf (Rotho) von Paderborn und Alberich von Osnabrück. Eventuell gelte dies auch für Alberich von Merseburg und "mit hoher Wahrscheinlichkeit" für Heinrich von Augsburg, der 1046/47 Kanzler für Italien war (901 f.).
In dem Kapitel "Gelehrte und Bücher aus Italien" (447-479) zeigt Huschner auf, dass der Anteil Italiens an dem geistig literarischen Aufschwung im nordalpinen Herrschaftsbereich der Ottonen ab dem letzten Drittel des 10. Jahrhunderts durch Gelehrte wie Stephan von Novarra, Gunzo Italicus (den er mit dem Mailänder Domherren Gunzo identifiziert) und Liudprand von Cremona sowie durch Bücher, die sie und andere aus Italien mitbrachten, nicht unterschätzt werden darf (447-479). Und nicht zuletzt der reiche Reliquienschatz Mittelitaliens und hier besonders Roms, der in Kirchen nördlich der Alpen transferiert wurde, knüpfte wechselseitige Beziehungen (685-711).
Huschners Arbeit wird die Forschung der nächsten Jahre intensiv beschäftigen, und nicht nur die Diplomatiker. Die Arbeit hat nicht nur das bisherige Bild von der Kanzlei auf den Kopf gestellt. Herausragende Handlungsträger vor allem der ottonischen Politik stehen nun in einem neuen Licht, und man wird in Zukunft italienische Einflüsse auf den nordalpinen Bereich stärker berücksichtigen müssen. Dabei wird sicherlich nicht alles unwidersprochen akzeptiert werden, doch an dem von Huschner entworfenen neuen Gesamtbild der königlichen "Kanzlei", ihrem Aufbau, der Ausfertigung von Urkunden und dem Anteil der Empfänger wird man in Zukunft nicht mehr vorbei kommen. Auch wenn es bisweilen mühsam ist, sich durch die seitenlangen Forschungsreferate zu lesen, wird jeder, der sich mit der Ottonen- und frühen Salierzeit beschäftigt, dieses Buch zur Kenntnis nehmen müssen.
Anmerkung:
[1] Hans-Henning Kortüm: Zur päpstlichen Urkundensprache im frühen Mittelalter. Die päpstlichen Privilegien 896-1046 (= Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters; 17), Sigmaringen 1995.
Jochen Johrendt