Roland Siekmann: Eigenartige Senne. Zur Kulturgeschichte der Wahrnehmung einer peripheren Landschaft (= Lippische Studien; Bd. 20), Lemgo: Institut für Lippische Landeskunde 2004, 504 S., ISBN 978-3-936225-13-6, EUR 24,50
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Seit einigen Jahren wird in Nordrhein-Westfalen die Einrichtung eines Nationalparks "Senne" diskutiert. Unter dem Titel "Eigenartige Senne. Zur Kulturgeschichte der Wahrnehmung einer peripheren Landschaft" hat Roland Siekmann eine Arbeit vorgelegt, die untersucht, welchen Wandlungen die Wahrnehmung dieser Heidelandschaft am Südrand des Teutoburger Waldes zwischen Bielefeld und Paderborn seit dem Mittelalter unterlag.
Nach einer ausführlichen methodischen Einleitung zu Geschichte und Wandel der Landschaftswahrnehmung sowie des Naturschutzes untersucht der Verfasser den Diskurs über die Senne. Hierbei orientiert sich Siekmann vor allem an der von dem Sozialgeografen Gerhard Hard entwickelten Methode des "Spurenlesens", die aus der Semiotik stammt. [1] Hard zufolge können Spuren sowohl physisch-materieller als auch sprachlicher Natur sein. Herausgearbeitet werden soll über die Geschichte der Wahrnehmung hinaus die "Eigenart" der Landschaft (106), die laut Paragraf 1 des Bundesnaturschutzgesetzes ein Schutzgut ist. Für Siekmann manifestiert sich die Eigenart der Senne im Umgang der Menschen mit dem Raum und in Kommunikation, Bewertung und assoziativer Verknüpfung der Landschaft und geht damit weit über die bloße Inventarisierung naturräumlicher und kulturlandschaftlicher Elemente hinaus.
Im Kapitel über den Freiraum Senne beschreibt Siekmann die Wahrnehmung der Landschaft als Grenzland zwischen dem Bistum Paderborn, den Grafschaften Lippe, Ravensberg und Rietberg als Ödnis und Armutsregion. Diese Beurteilung ist neueren Datums, denn die Beschreibungen des 17. bis frühen 19. Jahrhunderts sind zumindest neutral in ihrer Bewertung oder bemühen sich, die positiven Aspekte der Sennelandschaft hervorzuheben (132 f.). Seit dem 17. Jahrhundert betrieben die genannten Herrschaften eine Peuplierungspolitik, in deren Folge die Neusiedler eine von der jeweiligen Herrschaft unabhängige, gemeinsame Identität als "Sennebewohner" entwickelten (124). Dies war auch eine Reaktion auf die latente Kriminalisierung der Senner, denn volkstümlich galt die Senne als Zufluchtsstätte von Räubern, Schmugglern, Sinti und Roma, obwohl nur Holz- und seltener noch Wilddiebstähle aktenkundig wurden (156). Ein weiterer Aspekt der Randlandschaft ist die Konzentration von Einrichtungen aus den Bereichen Militär, Justiz und Sozialtherapie. Siekmann spricht von einer dreistelligen Zahl an Objekten, die in den Zentren nicht erwünscht waren. Ein Teil der Kultivierungsarbeiten im 20. Jahrhundert wurde in Zwangsarbeit von (Kriegs-)Gefangenen und Internierten erbracht (162).
Einen Wendepunkt in der Wahrnehmung der Senne markiert der 1899 erstmals veröffentlichte Aufsatz "Eine Sennefahrt" von Hermann Löns. Nun wurden die Ästhetik der Landschaft, ökologische Besonderheiten und kulturhistorische Relikte beschrieben. Die eintönige und unfruchtbare Landschaft galt jetzt als "stille Erhabenheit" und "schaurig-schön". Die armen Heidebauern wurden zu Naturmenschen stilisiert, die dem verweichlichten Städter an Zähigkeit und Arbeitseifer überlegen seien. Wie auch bei den benachbarten Externsteinen zu beobachten [2], zog die Urtümlichkeit der Senne seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts vermehrt "Germanenforscher" an, die nicht nur vermeintliche urgeschichtliche Stätten erforschten, sondern auch neue konstruierten (276 f.). Auch der offenen Heidelandschaft wurde ein urtümlicher und "uralter" Charakter unterstellt, was in der Wissenschaft bis in die 1930er-Jahre, in der populären Literatur sogar bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts fortwirkte.
Die Frage nach der ursprünglichen Vegetation der Senne führt zu einem zentralen Punkt der aktuellen Diskussion um die Ziele des Naturschutzes und die Zukunft der Senne. Im Kapitel "Die Senne als Naturparadies" stellt Siekmann den traditionellen Naturschutz bis in die 60er-Jahre dar, der eine sterbende Landschaft beklagt. In den 80er-Jahren kommt es zu einem Paradigmenwechsel, den die Konzentration auf die militärisch genutzten Flächen auslöste. Hier haben sich bis heute die offenen Sandflächen erhalten. Kurzzeitig schien sogar ein Truppenabzug in greifbare Nähe zu rücken. Viele Befürworter eines Nationalparks Senne hatten nicht bedacht, dass Naturschutz im Nationalpark Prozessschutz, das heißt das Zulassen einer ungesteuerten Dynamik der natürlichen Sukzession ist. Erfreulicherweise verzichtet Siekmann auf die Wiedergabe von bereits publizierten Argumenten zum Nationalpark Senne und widmet sich stattdessen der Analyse von Wahrnehmungen und Empfindungen. Zwar ist er sich der Subjektivität dieser Eindrücke bewusst, aber er stellt diese in den Zusammenhang von "Wildnis und Kulturlandschaft", das heißt der Frage danach, welche Natur wir schützen beziehungsweise auf welches Leitbild hin die Senne nach ihrer Unterschutzstellung zu entwickeln wäre. Will man die sekundäre, offene Heidelandschaft, deren Erhaltung einen hohen pflegerischen und finanziellen Aufwand bedeuten würde, die aber das in der Öffentlichkeit vorherrschende Bild von der Senne darstellt? Oder soll man, wie es einem Nationalpark angemessen wäre, menschliche Eingriffe möglichst gering halten, was auf eine Wiederbewaldung und den Verlust der geschätzten Offenlandschaft hinausliefe.
Siekmann nutzt qualitative Interviews als Quellen für die Wahrnehmung der Senne aus der Sicht des Naturschutzes. Leider gibt er nicht an, wie groß sein Sample gewesen ist und nach welchen Gesichtspunkten er seine Gesprächspartner ausgewählt hat. Aber diese Interviews sind aufschlussreich im Zusammenhang mit dem Anspruch des Buches, einen Beitrag zur Diskussion um den Nationalpark Senne zu leisten, denn sie geben Einblick in die Motivation der Experten und ihre individuellen Prägungen. Siekmann verzichtet darauf, die Passagen seiner Interviews, in denen seine Interviewpartner ihre Haltung zu widerstreitenden Naturschutzkonzepten für die Senne darlegen, wiederzugeben, und räumt stattdessen den oftmals kritischen Reflexionen über die Motivation breiten Raum ein. Allerdings hätten manche Zitate ohne Verlust der Aussagekraft gekürzt werden können. Deutlich wird, dass die Mehrzahl seiner Gesprächspartner eher die Schutzkategorie Biosphärenreservat anstrebt, die die Erhaltung der Kulturlandschaft erlaubt. Für den notwendigen Rückhalt in der Bevölkerung erscheint den Experten die Verwendung des positiv besetzten Begriffs "Nationalpark" sinnvoller als die relativ unbekannte Schutzkategorie "Biosphärenreservat" (383). Extrempositionen werden kaum vertreten, stattdessen überwiegen Zonierungskonzepte, die zwischen Prozessschutz und Erhaltung der offenen Kulturlandschaft vermitteln (388).
Die Einbeziehung der Gegenwart ist ungewöhnlich für eine Arbeit, die überwiegend den historischen Diskurs über die Wahrnehmung einer Landschaft untersucht. Hier ist sie aus zwei Gründen gerechtfertigt: Zum einen versteht Siekmann seine Arbeit als einen Beitrag zur aktuellen Diskussion um den Nationalpark Senne, zum anderen zeigt dieser Abschnitt, welche Bedeutung das "ästhetische Eindruckspotential" (475) einer Landschaft für die Motivation des Einzelnen haben kann.
Hinweisen möchte ich abschließend noch auf die reiche Ausstattung des Bandes mit Abbildungen. Der Autor hat sich die Mühe gemacht, aus zahlreichen Quellen und Archiven historische Abbildungen der Senne zu suchen. Sie sind weit mehr als eine Illustration des Textes, sondern untermauern beispielsweise die Analyse des Wandels naturschützerischer Leitbilder (344 ff., 394). An mehreren Stellen kontrastiert der Verfasser die historischen Aufnahmen durch eigene Fotos mit dem heutigen Zustand, was auch dem mit der Senne nicht vertrauten Leser eine Vorstellung von der Eigenart dieser Kulturlandschaft vermittelt.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Hard: Spuren und Spurenleser. Zur Theorie und Ästhetik des Spurenlesens in der Vegetation und anderswo, Osnabrück 1995.
[2] Erich Kittel: Die Externsteine, 5. Auflage, Detmold 1973. Der frühere Titel dieses schmalen Bandes lautet bezeichnenderweise: Die Externsteine als Tummelplatz der Schwarmgeister.
Martina Kaup