Kerstin Ekman: Der Wald. Eine literarische Wanderung. Aus dem Schwedischen von Hedwig M. Binder, 3. Aufl., München / Zürich: Piper Verlag 2009, 527 S., ISBN 978-3-492-05142-2, EUR 24,90
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Die Geschichte des Waldes bzw. die des Verhältnisses bestimmter Nationen zu "ihren" Wäldern haben Konjunktur. So aktualisierte 2002 Ekkehard Schwartz die Forstgeschichte Karl Hasels. [1] 2009 widmete der Landschaftsverband Westfalen-Lippe dem "Mythos Wald" eine Wanderausstellung [2] und Hansjörg Küster veröffentlichte "Schöne Aussichten. Eine Geschichte der Landschaft", die auch den Wald mit einbezieht. [3] Alle drei Arbeiten setzen sich interdisziplinär mit dem Wald und seiner Geschichte auseinander.
Interdisziplinär arbeitet auch die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman. Sie bemüht sich in 91 Essays, die sie zu sieben Großkapiteln zusammenfasst, das Verhältnis "der Schweden" zu "ihrem Wald" zu entfalten und dabei zugleich auch den anthropogen hervorgerufenen Wandel hin zu immer mehr Fichtenmonokulturen darzustellen.
Im ersten Kapitel "Der laubgrüne Wald" beschreibt sie die zivilisatorische Aneignung des Waldes seit der Antike, die sie als den Versuch des Menschen dem Wald "Herr zu werden" charakterisiert. (20) Ekman zufolge leiteten seit jeher zwei sich widersprechende Träume die Menschheit: Einerseits wollte sie den - bis weit in die Neuzeit hinein als bedrohlich empfundenen - "Wald besiegen", und anderseits wollte sie den "Wald wieder in den jungfräulichen Zustand zurückversetzen, in dem er sich befunden [habe], bevor der Mensch ihn in seine Gewalt gebracht" habe. (49f.)
Das zweite Kapitel schildert die wissenschaftliche Erkundung der Wälder. Naturkundler bzw. Geografen wie Olaus Magnus, Carl von Linné und Olaf Rudbeck beschrieben vom 16. bis 18. Jahrhundert die Botanik der Wälder Schwedens und Finnlands. Das dritte Kapitel widmet sich Wald-Mythen: Wichte, Kobolde, Gnome und Elfen, aber auch Räuber beherrschen das Geschehen. Die Metapher von der "Tiefe des Waldes" habe sowohl die triviale als auch die ambitionierte Literatur als "ein Bild der menschlichen Seele" verwendet.
Das vierte Kapitel "Garten des Todes" beschäftigt sich mit der Jagd. Hier spannt Ekman einen Bogen der Hatz auf Wölfe über die Jagdleidenschaft Hermann Görings bis zum schwedischen "Volkssport" Elchjagd. Im fünften Kapitel "Der Verwandlungsraum" nimmt Ekman die Metapher der "Tiefe des Waldes" wieder auf. Die Grimmschen Volksmärchen seien sehr früh auch in Schweden breit rezipiert worden, so dass bedeutende schwedische Autoren wie Selma Lagerlöf um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf diesem Kenntnisstand aufbauen konnten. Ekman datiert den Beginn des Mythos, wonach "die Schweden" ein besonderes Verhältnis zu "ihrem Wald" besäßen, auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Ziel der damaligen Bildungspolitik sei die Ausbildung einer schwedischen Nationalidentität gewesen. Viele Lesefibeln hätten darauf gezielt, "aus den Schweden [...] ein Volk zu machen". "Die Vaterlandsliebe, die zu entwickeln so wichtig war, wurde mit etwas verknüpft, das in Worte auszudrücken dem Volk so fremd war - Naturgefühl". (349) Während Schulkinder über Bild und Prosa "eine großartige Natur" schätzen lernen sollten (352), gründete sich parallel 1886 der Schwedische Touristenverein, der u. a. dazu beitrug, die schwedische Bergwelt touristisch zu erschließen.
Im sechsten Kapitel "Die Katastrophen" setzt sich Ekman vor allem mit dem durch die schwedische Forstwirtschaft hervorgerufenen Wandel der Waldlandschaft auseinander. Sie kritisiert vehement die staatlich sanktionierten Kahlschläge und die vornehmlich auf Kiefernmonokulturen setzende Wiederaufforstungspolitik. Welche fatalen Auswirkungen eine solche Politik habe, hätten nicht zuletzt Sturmschäden aufgezeigt. Zwar habe sich der Naturschutz redlich um den Erhalt der Wälder bemüht, doch sei die Forstwirtschaft nicht willens gewesen, sich ihre Verfügungsgewalt einschränken zu lassen. Aber auch andere anthropogene Einflüsse wie die in Schweden so beliebten Orientierungsläufe zeitigten negative Auswirkungen. (436)
Im letzten Kapitel "Das Ende des Pfades" tritt Ekman für stärkere Waldschutzmaßnahmen (Urwaldreste, Feuchtgebiete wie Moore oder Sumpfwälder) ein. Ausführlich setzt sie sich mit der schwedischen Naturschutzbewegung auseinander. So verweist sie auf die Aktivitäten des Schriftstellers und Botanikers Sten Selander, der die riesigen Moorflächen Lapplands als "Heimstätten einer großen und bezwingenden Poesie in Moll" bezeichnet habe. (459) Zwischen 1900 und den 1930er-Jahren sei die Naturschutzbewegung äußerst aktiv gewesen. Heute fehle es dem Naturschutz an gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz. Zustimmung finde er nur in bildungsbürgerlichen Kreisen. Eine wesentliche Ursache läge sicherlich in dem Ansatz, dass man sich dort Naturgenuss nur kontemplativ vorstellen könne. Hier zeigen sich durchaus Parallelen zum deutschen Naturschutz vor 1970. Ekman kritisiert die 1968er-Generation, die heute den schwedischen Umweltschutz dominiere, deren Ideen "himmelweit von der selanderschen Tradition entfernt" lägen, so dass sich mittlerweile eine große "Kluft zwischen der Schreibtisch- und Rednerpultwirklichkeit der Umweltpolitiker" und den "Freunden und Wächtern" des Waldes auftue. (512f.) Ihre Naturschutzvisionen sind eindeutig rückwärts gewandt, wünscht sie sich doch "vertieftes Sehen zurück[zu]erobern, das Rudbeck der Jüngere und Linné besessen hatten und das es auch bei ungebildeten Leuten" gegeben habe. (517)
Das Feuilleton besprach Ekmans "Der Wald" geradezu hymnisch. [4] Sie habe eine "Hommage enzyklopädischen Ausmaßes", eine "ganz besondere Form der Heimatkunde" vorgelegt. Tatsächlich verarbeitet Ekman eine beeindruckend hohe Zahl Werke literarischer, kultur- und allgemein historischer, aber auch naturkundlicher und naturhistorischer Provenienz. Ihre Monografie passt in keines der klassischen Genres. Sie ist weder Roman noch Sachbuch. Vielmehr lädt Ekman zu literarischen Reflexionen ein. Zu eigenen Wahrnehmungen bzw. Empfindungen assoziiert sie historische Quellen. Der Rezensent konnte mehr als einmal die Situation von Hänsel und Gretel nachempfinden: Auch wenn die Autorin im Vorwort darlegt, dass ihr Buch "nicht gradlinig von einem Punkt zum nächsten" führe und dass seine "Pfade [...] verschlungen" (11) seien, so kann man sich doch an mehreren Stellen des Buches des Eindrucks nicht erwehren, als habe man sich mit der Autorin in deren Gedankengängen mit verlaufen. Ärgerlich sind auch viele inhaltliche Wiederholungen. Die Gliederung erscheint partiell sehr willkürlich. Dem Buch hätte man ein besseres Lektorat gewünscht.
Wer sich für eine interdisziplinär ausgerichtete Geschichte des Waldes oder eine Auseinandersetzung mit dem "Mythos Wald" interessiert, dem bietet Ekmans Monografie einen sehr assoziativen Zugang. Mehr als in das Thema einzustimmen vermag der Band aber nicht - zumal das Literaturverzeichnis etliche der zitierten Quellen nicht auflistet.
Anmerkungen:
[1] Karl Hasel / Ekkehard Schwartz: Forstgeschichte. Ein Grundriss für Studium und Praxis. 2., akt. Aufl. Remagen 2002.
[2] Ann-Kathrin Thomm: Mythos Wald. Begleitbuch zur gleichnamigen Wanderausstellung des LWL-Museumsamtes für Westfalen-Lippe, Münster 2009.
[3] Hansjörg Küster: Schöne Aussichten. Kleine Geschichte der Landschaft. München 2009; Ders.: Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 1998.
[4] SZ 18.8.2008, FR 9.10.2008, FAZ 17.10.2008, NZZ 16.6.2009.
Hans-Werner Frohn