Inge Scheidl: Schöner Schein und Experiment. Katholischer Kirchenbau im Wien der Jahrhundertwende, Wien: Böhlau 2003, 378 S., 109 s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77138-8, EUR 49,00
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"Wien um 1900" ist schon lange ein ergiebiges Thema der Kunstgeschichtsschreibung. Und da mit Otto Wagner einer der wichtigsten österreichischen Architekten dieser Zeit auch ein bedeutender Kirchenbau - die Kirche am Steinhof - errichtet wurde, darf sich die vorliegende Arbeit von vornherein großer Aufmerksamkeit sicher sein. Es ist dabei ein großer Verdienst Inge Scheidls, Bereiche in den Blick genommen zu haben, denen sich die Kunstgeschichtsschreibung bisher nur wenig zugewandt hatte.
Am Beginn steht eine kurze Untersuchung der ästhetischen und theologischen Voraussetzungen (19-30), gefolgt von einem ebenso kursorischen Überblick über die "Stildiskussion im katholischen Kirchenbau" (31-42). Den Hauptteil bilden die Kapitel 3 bis 7 (43-240), in denen die wichtigsten Wiener Kirchenbauten, die zwischen 1880 und 1914 errichtet wurden, vorgestellt werden - geordnet nach stilistischen Kriterien. Am Beginn steht die Neogotik, es folgen Neoromanik, Neorenaissance, Neobarock und schließlich die Moderne. Die neogotischen Kirchen erfahren dabei eine Untergliederung nach der Stellung ihrer Türme: Kirchen mit axialem Turm, Kirchen mit seitlichem Turm, Kirchen mit Doppelturmfassaden. Die beiden sehr wichtigen Schlusskapitel 7 und 8 behandeln den Architekten Viktor Luntz (241-277) sowie die von ihm geplante Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche (279-345).
Diese Gliederung ist erklärungsbedürftig. Es ist nämlich auf Grund der faktisch das gesamte 19. Jahrhundert bestimmenden Gleichzeitig des Ungleichzeitigen und ebenso wegen des Verlusts regionaler Bautraditionen kaum möglich, anhand der Bauten einer einzigen Stadt - und sei sie auch von so zentraler Bedeutung wie Wien - eine Art Stilentwicklung zu konstruieren. Man wird also der Verfasserin wohl am ehesten dann gerecht, wenn man die einzelnen Kapitel als jeweils eigenständige kleine Abhandlungen versteht.
Einige Gedanken sind dabei in den Vordergrund zu stellen. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert gab es innerhalb der katholischen Theologie eine sich mehr und mehr intensivierende Beschäftigung mit dem schon seit der christlichen Antike beständig betonten Traditionsprinzip. Dessen Kern ist der Gedanke der grundsätzlichen Irrtumslosigkeit der Kirche. 1870 kulminierten alle diesbezüglichen Entwicklungen in der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit. Auf den Bereich der sakralen Kunst angewandt bedeutete das Traditionsprinzip, dass keiner den historischen Stil generell ablehnen konnte, denn sonst hätte man das unmögliche Zugeständnis machen müssen, dass die Kirche mit der Verwendung etwa des Barockstils einen Irrtum begangen hätte. Angesichts der "Entstehung der Barockkunst in Rom" (Alois Riegl) konnte man die Gotik nicht auf Dauer als den einzigen kirchlichen Stil bezeichnen.
Die letztendliche tatsächliche Freigabe der Stilwahl auf Grund des theologischen Traditionsprinzips lässt sich aus den von Scheidl zum Teil mit großer Genauigkeit gemachten Einzelanalysen immer wieder herauslesen. Ebenso wird man feststellen, dass es bei vielen Bauten eine manchmal fast schon erstaunlich große Freiheit bei der konkreten Gestaltung gab. Dieser Umstand lag in zwei wichtigen Umständen begründet. Zum einen hat es sich bei den stilprägenden historischen Vorbildern fast nie um Pfarrkirchen gehandelt; da man jetzt aber fast nur noch Kirchen mit Pfarrfunktionen errichtete, musste es zu erheblichen Anpassungen kommen. Zum andern wünschte man, wie die Verfasserin völlig zu Recht betont, eine möglichst "malerische Wirkung" - eine durchaus neuzeitliche Gestaltungskategorie. In einem sehr gelungenen Kapitel (95-100) stellt Scheidl dar, wie es auf Grund der gewünschten "Vorherrschaft des schönen Scheins" dazu kam, dass man als malerisch empfundene, aber nicht mehr benötigte Chorumgänge, nur noch vortäuschte.
Das sicherlich wichtigste Kapitel des Werkes, die Untersuchung zur Kaiser-Franz-Joseph-Jubiläumskirche (279-344), beruht auf einem genauen Studium der erhaltenen Wettbewerbsentwürfe sowie anderer zeitgenössischer Dokumente. Der riesige Bau sollte an das 50-jährige Regierungsjubiläum des Kaisers erinnern, das 1898 begangen werden konnte. Nach einem Wettbewerb, der von Anfang an stilistisch nicht begrenzt war, entschied man sich für einen weitgehend neoromanisch gehaltenen "Kaiserdom" von Viktor Luntz, der den Bau auch im Jahre 1900 begann. Nach dem Tod von Luntz (1903) wurde die Kirche von August Kirstein in modifizierter Form bis 1913 vollendet.
Angesichts der vielen Schwierigkeiten, die die vielen Bauten und das - zum Teil in überbordender Fülle, zum Teil aber auch gar nicht erhaltene - Quellenmaterial bieten, lässt sich über manche Akzentuierung natürlich streiten, auch hätten sicher einige Formulierungen ("korrumpierter praktischer Funktionalismus" 316; "Doppelcodierung" 329) weniger modisch ausfallen können. Gelegentlich unterstellt die Verfasserin den Architekten und Auftraggebern vielleicht auch eine zu komplizierte Denkweise. Daher verwundert sie sich auch ab und zu über die Differenz zwischen Theorie und Praxis. Anzumerken ist ferner, dass die Verfasserin aus nachvollziehbaren Gründen der Arbeitsökonomie den großen Komplex der Innenausstattungen nur gestreift hat.
Wie auch immer man einzelne Punkte bewerten will, so lässt sich auf jeden Fall sagen, dass das vorliegende Werk ein interessanter Beitrag zur Architekturgeschichte des 19. Jahrhunderts ist. Man ist der Verfasserin zu Dank verpflichtet, weil sie einen Weg abseits der üblichen Pfade gebahnt hat. Jeder, der in Zukunft die Wiener Sakralbauten dieser Epoche behandeln will, wird Inge Scheidls Arbeit zurate ziehen müssen.
Christian Hecht