Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin. Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München: C.H.Beck 2004, 377 S., 4 Abb., ISBN 978-3-406-52192-8, EUR 29,90
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Es ist ein kühnes Unterfangen, die Medizinethik von zweieinhalb Jahrtausenden in einem einzigen Band darzustellen: Der Verfasser setzt sich zwangsläufig der Kritik aus, problematisch ausgewählt, Akzente ungerechtfertigt gesetzt und Wichtiges weggelassen zu haben. Bei der Vielzahl der zitierten Quellen müssen außerdem Kontextualisierung, Differenzierung und Widersprüchlichkeiten bei einzelnen Autoren weit gehend entfallen; der Forschungsstand (der jeweils eigene Bücher füllen würde) kann ohnehin nicht mitgeliefert werden, trotz 45 Seiten Anmerkungen und 19 Seiten zur Sekundärliteratur. Auch die Struktur ist nur schwer in den Griff zu bekommen: Sollen Chronologie oder Themen gliederungsbestimmend sein? Grundsätzlich stellt sich zudem die Frage, ob die Diskussionsschwerpunkte der jeweiligen Epoche oder die historischen Beiträge zu unseren heutigen Fragen (soweit überhaupt vorhanden oder wenigstens angedeutet) skizziert werden sollen. Und Bergdolt hat noch einen weiteren Schwierigkeitsgrad aufgesattelt, indem er - so erklärt sich der sperrige Titel, an dem sich das anvisierte Publikum vielleicht prima vista stößt - sowohl theoretisch-philosophische und theologische Einlassungen ("Gewissen") als auch standesbezogene Debatten innerhalb der Ärzteschaft ("ärztliche Moral") aufnimmt.
Warum unterzieht sich der Verfasser einer so undankbaren Aufgabe, die der Kritik jede Menge offener Flanken bietet? Bergdolt betrachtet Geschichte nicht als Lehrmeisterin fürs Leben ("historia magistra vitae"); es geht ihm keineswegs darum, aus der Geschichte konkrete Handlungsanweisungen für die medizinische Alltagspraxis oder Argumente für gegenwärtige Diskussionen zu entnehmen. Bergdolts Antrieb ist der sorgenvolle Blick auf die ahistorische Gegenwart, die Geschichte als irrelevant und sogar als belastend empfindet. Dies schlägt sich auch in den aktuellen Medizin- und Bioethikdebatten nieder, die ohne historische Fundierung auskommen. Er beklagt den Verlust des abendländischen kulturellen Gedächtnisses und die allzu bereitwillige Anpassung der bioethischen Argumentations- und Denkstrukturen an das unreflektiert-positivistische Weltbild von Naturwissenschaften und Technik. Die Rezensentin darf anfügen, dass dieser Befund umso bemerkenswerter ist, als Medizinethik sich der Medizin gegenüber ja als kritisch empfindet und präsentiert, ebenso wie die Bioethik den Naturwissenschaften gegenüber distanziert auftritt. Um in einem technokratischen Kontext (den weniger Medizin und Biologie als die Politik und die Meinungsmacher der Gesellschaft bilden) jedoch gehört zu werden, passen sich Medizin- und Bioethik dieser Denk- und Sprechweise an - die Versuchung, als "Ethiker" ein breites Publikum zu finden und mit Drittmitteln verwöhnt zu werden, ist einfach zu groß. Bergdolt handelt so gut wie ausschließlich von Diskursen. Von deren Alltagsrelevanz wissen wir nicht viel, und nur zu oft dürfte sie gering gewesen sein - eine Befürchtung, die (vielleicht doch eine Lehre aus der Geschichte?) viele Protagonisten der Bioethik-Szene anzutreiben scheint.
Das meines Erachtens wichtigste Argument zugunsten einer geschichtsbewussten Medizinethik wird bei Bergdolt leider nicht explizit gemacht, obwohl es zwischen den Zeilen steht: Wer vorgibt, eine geschichtslose, gleichsam überzeitliche Ethik zu betreiben, täuscht sich und andere. In einer ahistorischen Gegenwart wird vergessen, dass diese Gegenwart Teil der Geschichte ist, dass ihre Werte und Normen nicht vom Himmel gefallen sind, sondern dass sie in konkret zu benennenden kulturellen Kontexten und Traditionen stehen, dass sie nicht unabhängig von politischen Konstellationen und gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Interessen sind - und dass sie selbstverständlich nicht von ewiger Dauer sein werden. So banal es klingt: Was man aus der Beschäftigung mit Geschichte lernt, ist das Gefühl für Historizität und Kontingenz.
Gegenüber dieser gewichtigen Bedeutung von Geschichte im medizinethischen Diskurs wiegen die eingangs erwähnten möglichen Kritikpunkte gering: Es kommt gar nicht auf Vollständigkeit an, eine epochenübergreifende exemplarische Darstellung von Problemfeldern, ein Eindruck von der Vielstimmigkeit möglicher Antworten, ein Überblick über die Entwicklung, Ausdifferenzierung und Etablierung des mentalen beziehungsweise moralischen Mainstream in unterschiedlichen Ländern erfüllt diesen Zweck ohne weiteres. Zudem führt der Perspektivenwechsel zwischen der Außensicht von gleichsam unbeteiligter Seite (Philosophie, Theologie) und der Innensicht der medizinischen Akteure eine zusätzliche Reflexionsebene ein.
In folgende Kapitel ist das Buch eingeteilt: Antike und frühes Christentum (mit den Hauptthemen Abtreibung, Suizid und Euthanasie, die später noch einmal epochenübergreifend behandelt werden), Mittelalter (wo der Begriff der Caritas im Zentrum steht), Renaissance und Frühe Neuzeit (dort muss sich die Medizin erstmals unter den neuen Naturwissenschaften behaupten), Zeitalter der Aufklärung (jetzt wird die Medizin in öffentliche Verantwortung genommen und muss ihren allgemeinen Nutzen nachweisen) und 19. und frühes 20. Jahrhundert (ein bisschen irreführend als "Jahrhundert der Vernunft" überschrieben, um das naturwissenschaftliche Paradigma, den Sieg der Technik und den Positivismus beziehungsweise Szientismus anzudeuten; ausgesprochen hilfreich ist hier die Würdigung der angelsächsischen Tradition, da von diesen Wurzeln die heutige medizinethische Meinungsführerschaft zehrt). Den Abschluss bilden kurze Andeutungen zu "Deutschland auf dem Weg in die Katastrophe", deren geringer Umfang der Verfügbarkeit reicher Forschungsliteratur zum Nationalsozialismus geschuldet ist, mit der diese Übersichtsdarstellung nicht konkurrieren kann und will. Das letzte Kapitel ist ein Ausblick auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und bietet aus der jüngsten Vergangenheit Anknüpfungspunkte für aktuelle Fragen.
Bergdolt spielt häufig auf rezente Beobachtungen an und bemüht sich immer wieder um einen Brückenschlag zu heutigen Diskussionen, wodurch relativ viele Ausdrücke der wissenschaftlichen Präzision halber in Doppelhäkchen gesetzt werden müssen, und er tritt sogar mittels Kursivierung betonter Wörter und durch zahlreiche Ausrufungszeichen in eine Art Dialog mit den Lesern. Durch dieses sympathische persönliche Engagement unterscheidet sich das Buch von trockenen Doxografien und eignet sich nicht nur für ein spezielles Fachpublikum, wobei dieses von den reichen Quellennachweisen (fast 9 Seiten) sehr profitieren und zu eigenen Recherchen angeregt werden dürfte.
Ortrun Riha