Dominik Groß / Tobias Heinrich Duncker (Hgg.): Farbe - Erkenntnis - Wissenschaft. Zur epistemischen Bedeutung von Farbe in der Medizin (= Anthropina. Aachener Beiträge zur Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin; 1), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2006, 210 S., ISBN 978-3-8258-9629-4, EUR 24,90
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Entsprechend dem interdisziplinären Anliegen der neuen Aachener Schriftenreihe vereint der Sammelband zur erkenntnisleitenden Funktion von Farben in der Medizin medizinhistorische und wissenschaftstheoretische Perspektiven. Dabei kommen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen miteinander in ein virtuelles Gespräch, bei dem die unterschiedlichen fachlichen Provenienzen zum Tragen kommen. Nachdem im Zuge des "iconic turn" dem "Bild" in Wissenschaft und Wissen(schaft)svermittlung seit Längerem von verschiedenen Seiten und auch in größeren Forschungsprojekten Aufmerksamkeit gewidmet wird, greift dieser Band den speziellen Aspekt der Farbe heraus, der bislang nicht gesondert auf Funktion, Funktionalisierung und Funktionalisierbarkeit hin überprüft wurde. Etwa zwei Drittel des Bandes widmen sich dieser Thematik und sind in vier Abschnitte untergliedert: Antike Medizin, Mikroskopie, funktionelle Bildgebung und Bibliografien.
Sebastian W. Storck und Tobias H. Duncker beschäftigen sich mit den frühen Hochkulturen beziehungsweise der griechischen Antike. Im alten Orient scheinen Farben zur Semiotik einzelner Krankheiten gehört zu haben, darüber hinaus transportieren sie jedoch keine weiter reichenden Bedeutungen. Im Unterschied dazu legt die Viersäftelehre eine Affinität der Medizin zu den vier Grundfarben Rot, Gelb, Weiß und Schwarz nahe und damit eine Einbindung des menschlichen Körpers in Mikro- und Makrokosmos. Die untersuchten hippokratischen Schriften zeigen sich jedoch solchen - wahrscheinlich als spekulativ eingeschätzten - Analogien wenig aufgeschlossen. Es handelt sich also um eine spätere Entwicklung in der Medizin, die erst in Spätantike und Mittelalter große Wirksamkeit entfalten sollte. In naturphilosophischen Texten dagegen, so insbesondere bei Empedokles, wird die realitätsstrukturierende Funktion der Farben von Anfang an mit den vier Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde in Verbindung gebracht und systematisch als Quelle der Erkenntnis genutzt.
Jan Steinmetzer, Dominik Groß, Tobias Fischer und Tobias H. Duncker untersuchen die Methoden und Ziele des Einsatzes von Farbe in der bakteriologischen Grundlagenforschung bei Robert Koch und Paul Ehrlich. Koch kann und will nicht auf eine Anfärbung von Bakterien verzichten, da er diese neu entdeckten Krankheitserreger nicht anders sichtbar machen kann, sieht jedoch durchaus manipulative Potenzen in den Färbemethoden und lässt daher eine gewisse Ambivalenz erkennen. Dagegen setzt Ehrlich die Notwendigkeit des Anfärbens seiner Präparate voraus und benutzt Farbstoffe auf der Basis von gezielten Versuchsreihen, um zusätzlich zum "Aussehen" weitere Eigenschaften seiner Objekte zu bestimmen und die klinische Diagnostik zu erleichtern.
Dominik Groß, Sabine Müller und Bernd Eisermann beschäftigen sich mit der Funktion von Farben in verschiedenen Verfahren des Neuroimaging. Die bunt gefärbten Aktivitätszonen in der funktionellen Magnetresonanztomografie sind ungeachtet des Umstands, dass sie das Ergebnis von Rechenvorgängen sind, eine suggestive Darstellung des "Gehirns bei der Arbeit", die bei Laien falsche Vorstellungen über die Möglichkeiten dieser diagnostischen Methode und gegebenenfalls sogar Ängste erwecken könnten. Hier prallt die kritisch-philosophische Position, welche die Virtualität der Bilder betont, auf die pragmatisch-medizinische Sichtweise, wonach die Darstellungen immerhin realistisch genug sind, dass man auf dieser Basis neurochirurgische Operationen durchführen kann.
Auswahlbibliografien von Michaela Thal und Andreas Kopytto zur Farbe in Kunst, Naturwissenschaft, Technik und Biowissenschaften runden den thematischen Teil des Bandes ab und zeigen mit ihren rund 290 Titeln, welche Fragen bisher gestellt wurden und in wie viele Richtungen sich das Thema weiter verfolgen ließe. Das Potenzial, das in der Fragestellung liegt, ist jedenfalls noch bei Weitem nicht ausgeschöpft. Die drei ganz unterschiedlichen Felder, auf denen sie hier erprobt wurde, zeigen, dass in jeder Epoche (und wahrscheinlich auf allen Gebieten von Naturwissenschaften und Medizin) Farben künftig mit ins historische Kalkül zu nehmen sind.
Der zweite Teil des Bandes präsentiert Projektskizzen, die für aufgeschlossene Insider der Fächer Medizingeschichte, -theorie und -ethik durchaus interessant sind, aber inhaltlich nichts mit dem Buchtitel zu tun haben, deshalb seien nur die Themen genannt: Sabine Müller vergleicht verschiedene Intelligenz-Theorien. Daniel Ketteler betrachtet Gottfried Benn vor dem Hintergrund neurowissenschaftlicher Diskurse seiner Zeit. Jan Steinmetzer und Dominik Groß haben sich die ethischen Implikationen der Behandlung von Transsexualität vorgenommen. Mareike Kehl untersucht die Darstellung der Intersexualität in den Printmedien und Sebastian W. Stork arbeitet die Geschichte der Gonaden-Transplantation auf.
Alles in allem präsentiert sich das relativ neu konstituierte Team des Aachener Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin aktiv, innovativ, aufgeschlossen und diskussionsfreudig. Die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten auf ganz unterschiedlichen Feldern, leisten aber unter einer Fragestellung - hier die epistemische Bedeutung von Farben - ihren spezifischen Beitrag, wobei der neue Direktor Dominik Groß dem einen oder anderen Autor behutsam unterstützend zur Seite stand. Man darf auf weitere Bände der Schriftenreihe gespannt sein.
Ortrun Riha