Clemens Wischermann / Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution. Eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (= Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004, 309 S., ISBN 978-3-515-08477-2, EUR 24,00
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Seit 1967/68 fand in der US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaft eine Rückbesinnung auf den institutionellen Rahmen des Wirtschaftens, also die Rechtsstrukturen, -institutionen und insbesondere die Verfügungsrechte, statt. Diesen Forschungstrend rezipierte die Wirtschaftsgeschichte so erfolgreich, dass Douglass C. North und Robert W. Fogel 1993 sogar einen Nobelpreis für Ökonomie erringen konnten. Nun wird in der deutschsprachigen Historiografie erstmals eine Einführung in das Fach vorgelegt, die sich dezidiert einem institutionenökonomischen Ansatz verschreibt. Dieses Unterfangen bietet die Chance für eine Annäherung der Wirtschaftsgeschichte an die Wirtschaftstheorie.
Einleitend fügt Wischermann dem in der neoklassischen Theorie vorherrschenden Bild des homo oeconomicus, der in ein Marktmodell mit vollständigen Informationen eingebettet ist, einige korrigierende Facetten hinzu. Zu Recht weist er darauf hin, dass dieser theoretischen Annahme in der Historie ein Ausnahmecharakter zukomme. Sie negiert die Kostenlosigkeit des Marktmechanismus und weist damit auf die Transaktionskosten hin, also die Kosten der Anbahnung, des Abschlusses und der Durchsetzung von wirtschaftlichen Transaktionen. Die Grundannahme gilt es über drei längere Perioden zu verfolgen: "das institutionelle Arrangement der vorliberalen Wirtschaft", "die Institutionelle Revolution in Deutschland (1800-1870)" sowie die "institutionelle Entfaltung der Wettbewerbswirtschaft (1870-1933)". Für den letzten dieser Abschnitte ebenso wie für die Zusammenfassung unter dem Titel "Die langen Schatten der Institutionellen Revolution" zeichnet Anne Nieberding (verstorben) verantwortlich.
Auffällig ist, dass der vorgeschlagene Paradigmenwechsel die ansonsten der "Industriellen Revolution" zugeschriebenen Zäsuren beibehält, jedoch eine Umbenennung anstrebt. Begründet wird dies mit dem grundlegenden Wandel des institutionellen Arrangements. Zeichnete sich die Phase vor 1800 durch eine starke Reglementierung der Verfügungsrechte aus, änderte sich dies über die "Sattelzeit" hinweg: Eigentumsrechte wurden - zumindest dem Anspruch nach - universell verteilt, Märkte und städtisches Handwerk verloren ihre Monopole. Gerade ländliche Konkurrenten, zum Beispiel Verlage im Textilgewerbe, brachen die städtischen Vorrechte auf. Dieses Bild erscheint konsistent und deckt sich mit zahlreichen Veröffentlichungen zur Industrialisierungsforschung, welche die Rolle der gesellschaftlichen Reformen im Gefolge der Französischen Revolution für die industrielle Entwicklung hervorheben. Darüber hinaus legt Wischermann den Akzent auf die Langwierigkeit des strukturellen Wandels im Übergang von einer moralisch geprägten Ökonomie zu einer Anerkennung der Legitimität des Wettbewerbs.
Die Umbruchphase wird stark auf Preußen zentriert dargestellt. En detail wird der Wandel der institutionellen Regelungen nachgezeichnet. Der Fokus liegt auf dem Eigentumsbegriff, mit anderen Worten der Neuregelung der Verfügungsrechte über Grund und Boden. Im Agrarsektor wird die Problematik der Allmendeteilungen ausführlich dargestellt. Daneben wird an dem bereits früher von Wischermann untersuchten Beispiel der Bielefelder Legge das Weiterleben wettbewerbsbeschränkender Institutionen im Gewerbesektor thematisiert. In einem Abschnitt zum Unternehmertum werden unter anderem neue Rechtsformen von Unternehmen dargestellt. Es ist fraglich, ob es sich bei den Aktiengesellschaften um eine institutionelle "Schlüsselinnovation" (91) handelte. Immerhin bereitete die Finanzierung von Unternehmen in der Frühphase der Industrialisierung nur selten Probleme, weil häufig ein Netz familiärer Bande nutzbar gemacht werden konnte. Sicherlich beförderten Aktiengesellschaften das effiziente Prinzip der beschränkten Haftung und ermöglichten eine leichtere Übertragbarkeit von Eigentumsrechten. An solchen entscheidenden Stellen mangelt es der Argumentation an der Exemplifizierung, einer Darlegung am historischen Beispiel, wie die Senkung der Transaktionskosten tatsächlich erfolgte. In weiten Passagen des Werkes überwiegt die normative Analyse.
Der von Nieberding verfasste längste Abschnitt des Buches widmet sich der "institutionellen Entfaltung" vom deutschen Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik. Die Darstellung der Entwürfe des Wirtschaftsrechts mündet in eine Beschreibung der Wirtschaftsbereiche. En passant werden im Unterabschnitt zum Kapitalmarkt wesentliche Konzepte wie Preisbildung, Geldschöpfung oder Goldstandard geklärt, wie man es von einer Einführung in ein Fach erwartet. Insgesamt gerät die Darstellung recht deskriptiv, teils handbuchartig, zum Beispiel wenn die institutionelle Regulierung des Arbeitsmarktes behandelt wird. Von der Frühphase der Gewerkschaften über das Sozialistengesetz bis zum Genter System der Arbeitsvermittlung und der staatlichen Schlichtung werden intervenierende, meist politische Einflussfaktoren thematisiert. Als Randaspekt werden wissenschaftliche Debatten wie die Borchardt-Kontroverse kurz angerissen. Ein Kleinstabschnitt zur Entstehung der Werbung wirkt deplatziert. Die Einarbeitung von nebensächlichen Aspekten geht zulasten der logischen Stringenz, die man von einem Lehrbuch erwartet.
"Institutions matter" - dieser von North entworfenen Formel kann man sich anschließen, jedoch könnte der Band noch mehr auf das Problem ihrer Gewichtung eingehen, eben das institutionelle Arrangement, und der sich daraus ergebenden wirtschaftlichen Kosten. Die als Terminus technicus eingeführten Transaktionskosten werden in der Darstellung zu selten thematisiert, geschweige denn, dass der Versuch unternommen würde, einen Weg zum Problem ihrer Berechnung zu eröffnen. Fraglich ist ferner, inwieweit die vorliegende Einführung tatsächlich Neuland betritt. Die Beschreibungen der institutionellen Neuordnung folgt in weiten Teilen traditionellen Bahnen, insofern als Reformen in ihrer wirtschaftlichen und sozialen Genese erläutert werden. Für eine ökonomische Analyse vieler Teilaspekte fehlt es an Voruntersuchungen, denn die vorhandene Literatur geht oft über eine juristisch-normative Sichtweise auf die Institutionen nicht hinaus. In diesem Zusammenhang hätte es der Einführung gut getan, zumindest die Ergebnisse der von Wischermann im Oktober 2001 selbst mitorganisierten Dortmunder Tagung "Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics" einzubeziehen. Auch die grundlegende angloamerikanische Literatur wird wegen der Fixierung auf Deutschland nur beiläufig eingearbeitet. Manches lange Zitat wirkt unzureichend in die Argumentation eingebunden. Sicherlich wäre dem Band, seinem Charakter als Lehrbuch entsprechend, auch ein Register sehr zugute gekommen.
Ein Verdienst der Autoren ist es sicherlich, überhaupt den Blick auf die Wirkungskraft institutioneller Regelungen zu lenken und damit eine bestehende Lücke in der Industrialisierungsforschung zu schließen. Daran, den Begriff "Industrielle Revolution" überhaupt zu ersetzen, kann nicht gedacht sein, auch wenn der Klappentext dies so postuliert. Zu komplex sind andere Wachstumsmodelle, von denen sich die Autoren zwar abgrenzen, die sie aber dennoch in wesentlichen Grundzügen akzeptieren.
Marcel Boldorf