Ute Schleimer: Die Opera Nazionale Balilla bzw. Gioventù Italiana del Littorio und die Hitlerjugend. Eine vergleichende Darstellung (= Internationale Hochschulschriften; Bd. 435), Münster: Waxmann 2004, 304 S., ISBN 978-3-8309-1445-7, EUR 34,80
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Bei der Bestimmung dessen, was der italienische Faschismus eigentlich war und welche Merkmale es sind, die sein Wesen vor allem charakterisierten, herrscht noch immer wenig Eintracht. Allem Zweifel enthoben ist aber, dass es sich bei Mussolinis Gefolgschaft nicht zuletzt um eine Jugendbewegung handelte, die im Ersten Weltkrieg ihre besondere Prägung durch Nationalismus und Gewalt erhielt - und diesen Erfahrungsschatz dann zur Richtschnur ihrer Politik und ihres Politikstils machte.
Der Jugend-Mythos und die Erneuerungshoffnungen, die sich an ihn knüpften, blieben bis 1945 lebendig. Es war deshalb auch kein Wunder, dass Mussolini alles daran setzte, die nachfolgenden Generationen für seine Ziele zu gewinnen. Sie sollten aus ihren traditionellen familiären und religiösen Bindungen herausgelöst und ganz im Zeichen faschistischer Zukunftsprojektionen zu "neuen Menschen" erzogen werden. Die Schule war dieser Aufgabe in den Augen des "Duce" nicht gewachsen, sie musste selbst erst umgebaut und mit dem richtigen faschistischen Geist erfüllt werden.
Umso wichtiger waren die Jugendorganisationen, denen Mussolini Anfang der Dreißigerjahre - trotz entschiedener Gegenwehr der katholischen Kirche - eine Art Monopolstellung verschaffte, die sie - ausgestattet mit beträchtlichen finanziellen Mitteln - rasch mit Leben zu erfüllen vermochten. Als "wahre Schule des Faschismus" hatte Mussolini den entsprechenden Organisationen (der Opera Nazionale Balilla und seit 1937 der Gioventù Italiana del Littorio) einen umfassenden Erziehungsauftrag erteilt, der sich auf Körper, Geist und Seele gleichermaßen bezog. Dementsprechend vielfältig waren die Initiativen, die ONB und GIL ergriffen: Sie bauten Bibliotheken und Jugendheime auf, sie veranstalteten Kinoabende und organisierten Sommerkolonien, die insbesondere für Kinder mit gesundheitlichen Handicaps aus ärmeren Familien gedacht waren. Besonders beliebt waren außerdem die karitativen Leistungen zu Weihnachten und zur "Befana fascista" am 6. Januar; Millionen von Kindern aus dürftigen Verhältnissen erhielten dabei Lebensmittelpakete und kleinere Geschenke, die an die Großzügigkeit des faschistischen Regimes erinnerten.
Im Vordergrund der Aktivitäten von ONB und GIL standen aber von Beginn an die ideologische Indoktrinierung und vor allem die paramilitärische Ausbildung der italienischen Jugend; nicht umsonst sollten die Führungspositionen bei den "Balilla" (8-14 Jahre) und bei den "Avanguardisti" (14-18 Jahre) mit Offizieren der Miliz bzw. mit Lehrern besetzt werden, die früher der Miliz angehört hatten. Schon die acht- bis 14-jährigen lernten marschieren, während die Älteren systematisch gedrillt und an der Waffe geschult wurden.
Vieles spricht dafür, dass nur eine kleine Minderheit den Dienst in den faschistischen Jugendorganisationen als lästige Zumutung empfand, der man sich am liebsten entzog. Die große Mehrheit machte mit, und zwar nicht murrend und maulend, weil Eltern und Lehrer es erwarteten oder weil ehrgeizige Funktionäre es erzwangen, sondern aus ehrlicher Begeisterung über die Aufmerksamkeit, die man dem Nachwuchs der Partei überall entgegenbrachte. Bei den Faschisten gab es volle Teller, attraktiven Sport und ungleich mehr Raum für Spaß und Abenteuer als in den Familien, die jugendlichen Tatendrang nur allzu oft in rigidem Erziehungsschematismus erstickten oder in übervorsichtiger Behütung gar nicht erst aufkeimen ließen. Ernst genommen zu werden, sich bewähren zu können, zeigen zu dürfen, was in einem steckte - der Faschismus bediente solche jugendlichen Geltungs- und Entfaltungswünsche, ganz zu schweigen davon, dass in den Jugendorganisationen auch zahlreiche Posten und Pöstchen zu vergeben waren, die von immenser Wichtigkeit zu sein schienen und denjenigen, die sie bekleideten, das Gefühl gaben, als kleine Duxe unentbehrlich zu sein.
Ute Schleimer hat diesem wichtigen Thema eine nicht uninteressante Dissertation gewidmet, die dem deutschen Leser vor allem in den empirischen Hauptteilen, die von der "Geschichte, Gründung und Struktur der O.N.B. bzw. G.I.L." und dem "Totalitären Anspruch der O.N.B. bzw. G.I.L." handeln, eine erste Orientierung erlaubt. Ähnliches gilt für das Kapitel über den Alltag der faschistischen Jugendorganisationen, wobei hier aber einschränkend hinzugefügt werden muss, dass sich die Autorin fast ausschließlich auf Erlasse und Proklamationen stützt und deshalb gar nicht erkennen kann, wie stark die politischen und psychischen Bindekräfte waren, die in den faschistischen Verbänden entwickelt wurden. Methodisch mehr als fragwürdig ist der Abschnitt über das "Subjektive Erleben der Jugendlichen", den die Autorin auf der Basis von 20 Interviews geschrieben hat, die sie vor wenigen Jahren in einem florentinischen Altenheim führen konnte. Der Aussagewert dieses Kapitels ist ebenso gering wie der des Abschnitts über den "Vergleich zwischen der O.N.B. bzw. G.I.L. und der HJ", der erneut beweist, dass Theorie und methodologische Reflexion nicht die Sache der Autorin sind.
Was man aus dem Thema hätte herausholen können, hat 2003 Luca La Rovere mit seiner fulminanten Studie über die Geschichte der faschistischen Studentenverbände bewiesen. Hier verbinden sich stupende Quellenkenntnis und hohes methodisches Bewusstsein mit der Kraft zur Bildung neuer Thesen, die unser Wissen über die Geschichte des Faschismus beträchtlich erweitern. Es könne keine Rede davon sein, so La Rovere, dass die "fascistizzazione" der Jugend fehlgeschlagen sei, und dass der faschistische Staat keine neue Elite hervorgebracht habe, wie insbesondere Renzo De Felice behauptet hat. Das Regime vermochte im Gegenteil unter den Studenten ein Maß an Hingabe und "Duce"-Gläubigkeit zu erzeugen, das in anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht zu finden war und bis 1943 ungebrochen blieb, ganz zu schweigen davon, dass tausende und abertausende von ideologisch geschulten und hochmotivierten Studenten eine Karriere in Wirtschaft, Politik und Kultur eröffnet wurde. Der Slogan "macht den jungen Leuten Platz" war mithin alles andere als eine hohle Phrase.
Hans Woller