Von Christine Roll / Matthias Schnettger
Die Geschichte des Alten Reichs zählt seit mehr als einem halben Jahrhundert unzweifelhaft zu den fruchtbarsten Feldern der deutschen Frühneuzeitforschung. Längst vorbei sind die Zeiten, da das Heilige Römische Reich Deutscher Nation einer kleindeutsch-borussisch ausgerichteten Historiographie als Ausdruck tiefster Dekadenz galt und als Zerrbild des ersehnten Nationalstaats herhalten musste oder bloß den dunklen Hintergrund abgab, vor dem sich der Aufstieg Brandenburg-Preußens zum Wegbereiter neuer nationaler Größe vollzog.
Inspiriert und begünstigt durch die hohe Wertschätzung, derer sich - als Folge der Perversion des Machstaats - föderale Strukturen bald nach 1945 wieder erfreuten, gewann auch das Alte Reich, jene ganz andere Tradition deutscher Staatlichkeit, für die Frühneuzeitforschung ungemein an Attraktivität. Mehrere Generationen von Reichs-Historikern haben unsere Kenntnisse über das Alte Reich in einer Fülle von Einzelstudien und Gesamtdarstellungen seither ernorm erweitert und vertieft. Auch ist die Geschichtswissenschaft in ihrem Bemühen, angemessene Kategorien für die Erforschung jenes eigenartigen, vormodernen, so gar nicht imperialistischen Imperiums auszuarbeiten, ein gutes Stück vorangekommen.
In der politischen Ordnung des Alten Reichs sieht man denn auch nicht mehr Kleinstaaterei und Dysfunktionalität, sondern begreift, dass die Verfassung des Reichs die kleineren und kleinsten seiner Glieder vor dem Zugriff der großen weitgehend zu bewahren vermochte und dass sie für politische Aktivitäten wie für unkonventionelle Kompromisse erhebliche Spielräume bot. Verfassungsgeschichte des Reichs ist mithin nicht mehr die isolierte Geschichte seiner Institutionen, sondern das Bemühen um das Verständnis von der Verfasstheit, ja: vom Wesen des Reichs - unter Einbeziehung seiner sozialen, wirtschaftlichen, konfessionellen, regionalen kommunikativen und weiteren Strukturen. Den vormals diskreditierten "Flickenteppich" lobt mancher inzwischen sogar als regionale Vielgestaltigkeit - so dass es scheint, als ob sich die Anschauungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mittlerweile geradezu in ihr Gegenteil verkehrten und die Hochachtung vor dem Forschungsgegenstand für seine - ja auch von vielen Zeitgenossen beklagten - Schwachstellen blind zu machen drohe.
Das Alte Reich jedenfalls sorgt für Diskussion im Fach. Und wenn die von Georg Schmidt vorgetragene These vom Alten Reich als dem Staat der Deutschen - genauer: vom "komplementären Reichs-Staat der deutschen Nation" - jüngst so hohe Wellen schlug, dass sie auch in die allgemeinen Zeitschriften des Fachs hineinschwappten, zeigt das, welch große Bedeutung der gelehrte Disput um die "richtige" Interpretation des Alten Reichs in der Frühneuneuzeitforschung heute hat.
Die Tagung "Die Frühe Neuzeit als Epoche" der Arbeitsgemeinschaft "Frühe Neuzeit" im Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (15.-17. September in Erlangen) ist uns Anlass, Rezensionen über wichtige Neuerscheinungen zur Reichsgeschichte in der Frühen Neuzeit in einem FORUM der sehepunkte zusammenzufassen. Fünf Beobachtungen seien hierbei hervorgehoben:
1. Nachdem die Forschung sich lange Zeit bevorzugt mit den reichsständisch geprägten Institutionen beschäftigt hatte, gewinnt seit einigen Jahren auch die Verfassungsinstitution Kaiser verstärkt an Interesse. Damit kommen die Habsburger in Blick, die in der Frühen Neuzeit - mit einer Ausnahme - ausschließlichen Träger der Kaiserkrone. Das Forschungsinteresse gilt inzwischen auch den Residenzen und ihrer Baugeschichte, etwa jener Schönbrunns (Elisabeth Hassmann), und es gilt dem mit künstlerischen Mitteln geäußertes Lob der Dynastie wie Herrscherkritik (Pierre Béhar / Herbert Schneider). Eine immer wieder gestellte, jedoch noch keineswegs erschöpfend beantwortete Frage ist die nach den Zielen und Beweggründen der kaiserlich-österreichischen Reichspolitik (Angela Kulenkampff). Verfolgten die Habsburger primär ihre landesherrlichen Interessen? Welche Rolle spielten ihre dynastischen Belange wie die des Reichs? Im Zusammenhang solcher Fragestellungen kommen auch die kaiserlichen Minister und Räte vermehrt in den Blick: als wichtige Entscheidungsträger am Kaiserhof, in ihren sozialen und konfessionellen Bindungen und sogar in ihrer je eigenen Biographie (Anja Meußer).
2. An den kaiserlichen Räten, aber auch an den Reichsfürsten, interessiert in wachsendem Maße ihre Rolle als Akteure und Träger der politischen Kommunikation (Reiner Zimmermann). Auf die Erforschung der Kommunikationswege wie deren Organisatoren wird zunehmend Gewicht gelegt (Karl Heinz Kremer). Studien zur Reichspublizistik erweisen sich weiterhin ebenfalls als ergiebig (Albrecht von Arnswaldt). Auf den ersten Blick erstaunlich erscheint, dass es bis zum Ende des Reichs Bestrebungen und Hoffnungen gab, mit dem Buchhandel zusammenhängende Fragen reichsweit und -einheitlich zu regeln (Steffen-Werner Meyer), wenngleich auch in diesem Bereich im 18. Jahrhundert eine schleichende Föderalisierung zu beobachten ist. Diese Neuerscheinungen weisen darauf hin, dass in jüngster Zeit das Reich verstärkt auch als Kommunikationsraum wahrgenommen worden ist.
3. Nach wie vor aktuell erscheint die in den 1970er Jahren laut gewordene Forderung, sozial- und verfassungsgeschichtliche Forschungen zum Alten Reich miteinander zu verbinden, dies nicht nur mit Blick auf die bereits erwähnten Amtsträger am Kaiserhof, sondern selbstverständlich auch auf die reichsständischen Vertreter an Reichskammergericht und Reichstag, wobei sich fruchtbare Verbindungen zwischen reichs- und landesgeschichtlicher Forschung ergeben können (Lupold von Lehsten, Christoph Schmelz). Daneben gilt das Interesse der kaiserlichen Klientel, den Mindermächtigen im Reich. Hier ist nicht zuletzt die Reichsritterschaft zu nennen (Helmut Neumaier), die zwar nicht zu den Reichsständen gehörte und folglich auch nicht an den reichsständischen Institutionen wie Reichstag und Reichskammergericht partizipierte, gleichwohl im 16. Jahrhundert nicht zuletzt mit Hilfe kaiserlicher Privilegien ihre Reichsunmittelbarkeit sicherte.
4. Die Stellung des Reichs in Europa ist ein Forschungsfeld, das in den letzten Jahren wieder verstärktes Interesse findet. Zum einen werden die Beziehungen von Kaiser und Reich zu ihren Nachbarn in den Blick genommen, von denen traditionellerweise Frankreich eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, das auch in relativen Schwächephasen eine aktive Reichspolitik pflegte und wo die Kenntnisse über das Reich und seine Verfassung bemerkenswert gut waren (Jörg Ulbert). Zum anderen erfahren die nichtdeutschen Peripherien des Reichs verstärkt Aufmerksamkeit. Ambivalent war beispielsweise die Stellung Böhmens (Alexander Begert): Einerseits war der König von Böhmen der vornehmste der weltlichen Kurfürsten (und zugleich in Personalunion in der Frühen Neuzeit fast durchgängig der Kaiser), andererseits erfolgte im späten Mittelalter ein Rückzug Böhmens aus dem Reich - erst durch die sogenannte Readmission von 1708 wurde es zum steuerzahlenden Mitglied des Reichstags.
5. Eine fünfte Beobachtung betrifft die Frage, wie die Ergebnisse der neuen Reichsgeschichtsforschung über die Kreise der Spezialisten hinaus dem allgemeinen Fachpublikum, aber auch einer größeren Öffentlichkeit nahe gebracht werden können. Dass das Reich und seine Verfassung in Überblicksdarstellungen zur Frühen Neuzeit eine angemessene Rolle einnehmen müssen, sollte unbestritten sein (Hans-Jürgen Goertz). Daneben hat in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Jubiläen und mit diesen verknüpften Ausstellungen das Alte Reich stärker ins allgemeine Bewusstsein gerückt: 1998 zum Westfälischen Frieden, 2003 zum Reichsdeputationshauptschluss, 2005 zum Augsburger Religionsfrieden ("Als Frieden möglich war"), und 2006 wird man an das Ende des Reichs erinnern. Man mag mit Recht kritisieren, wenn sich die Forschung zu sehr an die aktuelle "Jubiläumskonjunktur" binden lässt. Gerade für die älteren Epochen besitzen die Jubiläumsausstellungen jedoch eine wichtige Vermittlungsfunktion.
Die im FORUM besprochenen Bücher bestätigen insgesamt das hohe Niveau, das die Forschungen zum Alten Reich in den vergangenen Jahrzehnten erreicht haben. Zugleich wird deutlich, dass die Reichsgeschichtsforschung durchaus in der Lage ist, mit Gewinn aktuelle Forschungsansätze zu adaptieren und ihrerseits neue zu entwickeln. Freilich bleibt noch eine Menge zu tun. Die Tatsache, dass das für die frühneuzeitliche Reichsgeschichte wichtigste Archiv, das Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, den Benützern nach einer mehrjährigen Umbauphase nun wieder ohne Einschränkung zur Verfügung steht, sollte ein Ansporn sein, sich in die Arbeit zu stürzen.