Andrea Lermer: Der gotische 'Dogenpalast' in Venedig. Baugeschichte und Skulpturenprogramm des Palatium Comunis Venetiarum (= Kunstwissenschaftliche Studien; Bd. 121), München / Berlin: Deutscher Kunstverlag 2005, 408 S., 181 Abb., ISBN 978-3-422-06500-0, EUR 75,90
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Davide Scruzzi: Eine Stadt denkt sich die Welt. Wahrnehmung geographischer Räume und Globalisierung in Venedig von 1490 bis um 1600, Berlin: Akademie Verlag 2010
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Venezia! Kunst aus venezianischen Palästen. Sammlungsgeschichte Venedigs vom 13 bis 19. Jahrhundert. (Katalog zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 27.9.2002 - 12.1.2003), Ostfildern: Hatje Cantz 2002
Matthias Bleyl: Deckenmalerei des 18. Jahrhunderts in Venedig. Die hohe Kunst der Dekoration im Zeitalter Tiepolos, München: Martin Meidenbauer 2005
Carolin Wirtz: Köln und Venedig. Wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen im 15. und 16. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006
Lindy Grant: Architecture and Society in Normandy 1120-1270, New Haven / London: Yale University Press 2005
Bernd Carqué / Daniela Mondini / Matthias Noell (Hgg.): Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und der Moderne, Göttingen: Wallstein 2006
Der Dogenpalast in Venedig gehört nicht gerade zu den Stiefkindern der Kunstgeschichte. Spätestens seit John Ruskins berühmter Venedigmonografie "Stones of Venice" von 1851-1853 und der allein dem Dogenpalast gewidmeten, gewichtigen fünfbändigen Abhandlung von Francesco Zanotto (1858-1863) ist der pittoreske Bau immer wieder Gegenstand von wissenschaftlichen Untersuchungen gewesen. Andrea Lermer bringt nun diese Steine erneut ins Rollen. Die Autorin konzentriert sich auf das mittelalterliche Skulpturenprogramm, berücksichtigt dabei auch Fragen zur Baugeschichte, insoweit die Architektur als Bild- und Bedeutungsträger betroffen ist. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen der 110 Kapitelle umfassende Zyklus in den Arkaden von Erdgeschoss und Loggia und die hiermit in Verbindung stehenden sieben Reliefs der Fassaden zur Mole und zur Piazzetta. Sie trägt den Charakter einer breit angelegten Monografie, die auf der Grundlage einer soliden Bearbeitung des Materials schließlich in Fragen zur Auftragssituation und zur politischen Ikonografie mündet.
Paradoxerweise wird der Blick auf die 'pezzi grossi' der Kunstgeschichte durch eine fast erdrückende Anzahl an vorhandenen Forschungen zunehmend erschwert. Der Gewinn an Detailkenntnis verstellt immer mehr den Blick auf das Ganze. Hierbei Spreu und Weizen, Legenden und Fakten zu trennen, ist eine mühsame Aufgabe. Umso dankbarer wird der Leser zu Andrea Lermers Buch greifen, das unter erneuter kritischer Heranziehung der Quellen das Wissen um das mittelalterliche Bildprogramm zuverlässig konzentriert. Dies gilt sowohl für die Abschnitte zur Baugeschichte (35-90) als auch die Analyse der Einzelbilder (91-234) und deren Interpretation im Zusammenhang (235-280).
Der Text wartet weder mit neuen Quellen oder Befunden, noch mit einer neuen, übergreifenden Interpretation des Dogenpalastes auf. Er wägt vorhandene Forschungsmeinungen gegeneinander ab und ergänzt und korrigiert diese um eine Reihe von wichtigen neuen Beobachtungen im Detail, sodass der bisher zum Teil noch lose Argumentationsfaden sich zu einem tragfähigen Gewebe verdichtet. Sehr überzeugend gelingt dies bereits im ersten Abschnitt zur Architekturgeschichte. Auf Grundlage der im Jahr 2000 veröffentlichten Ergebnisse der Bauuntersuchungen von Manfred Schuller und einer Neulektüre der Schriftquellen weist Lermer nach, dass 1340 zunächst nur an eine Aufstockung des bestehenden romanischen Palastes gedacht war und der komplette Neubau erst einer Planänderung von 1342 zu verdanken ist. [1] Nach langer Bauunterbrechung konnte dieses im 14. Jahrhundert halb fertig liegen gebliebene Projekt erst 1438-1443 weitgehend nach den ursprünglichen Vorstellungen vollendet werden. Die kunsthistorische Bewertung des gotischen Baus ist genauso bestechend wie einleuchtend: im Gegensatz zu älteren Versuchen, den Bau aus einer byzantinischen oder islamischen Tradition abzuleiten oder ihn in die Abhängigkeit des Paduaner Palazzo della Raggione zu stellen, sieht Lermer den Bau in der eigenen venezianischen Tradition stehend. Sie kann dies sowohl an der Großform mit zwei übereinander liegenden Arkadengängen, als auch an Details wie der Spolienverwendung und der kantonierten Pfeiler plausibel machen: ein ambitiöser, hochmoderner Palastbau mit Erinnerungen an die eigene Tradition.
Neben diesem prominenten Lokalbezug weist auch die Entscheidung für Figurenkapitelle als Träger des Bildprogramms dem Dogenpalast eine Sonderstellung innerhalb der mittelalterlichen Architektur Italiens zu. Für die Bildinhalte trifft dies jedoch in weiten Teilen nicht zu: Die Grundstruktur des Zyklus bildet ein erweitertes enzyklopädisches Bildprogramm, wie es in Variationen auch aus Florenz (Campanile) und Perugia (Fontana Maggiore) bekannt ist. Zwischen die Darstellungen der Planeten, Monatsbilder, Freien Künste, Tugenden, Lebensalter und Völker mischen sich auch ungewöhnliche Genreszenen, darunter die Darstellung einer Liebesbeziehung und Bilder mit lokalspezifischem Inhalt, wie den Handelspartnern Venedigs und der Schilderung kaufmännischer und handwerklicher Berufe.
Eine Deutung dieser Bildfolge muss mit Unsicherheiten behaftet bleiben, konnten im 14. Jahrhundert doch nur circa zwei Drittel der Kapitelle ausgeführt werden. Da in dieser ersten Bauphase aber mit der Sala del Maggior Consiglio das Kernstück des Palastes fertig gestellt wurde, erscheint der überlieferte Bestand ausreichend repräsentativ. Die Darstellungen des 15. Jahrhunderts hielten sich offenbar, wie die Autorin in einigen Fällen wahrscheinlich machen kann, an die ursprünglich intendierte Ikonografie. Zumeist handelt es sich aber um Verlegenheitslösungen, nicht selten um Kopien nach den Vorbildern des 14. Jahrhunderts.
Das eigentlich Überraschende und Originelle der venezianischen Skulpturen liegt für den heutigen Betrachter weniger in den topisch bestimmten Varianten des enzyklopädischen Zyklus', als vielmehr in den Abbildungen des täglichen Gewerbelebens. Dies illustriert erneut das widersprüchliche Phänomen, dass in den adlig dominierten, italienischen Kommunalpalästen ein bürgerliches Leben thematisiert wird, während die bürgerlichen Rathäuser nördlich der Alpen versuchen, ein elitäres, höfisches Ambiente heraufzubeschwören. Andrea Lermer interpretiert die zwischen die Reliefs von Adam und dem Erzengel Michael eingespannte Bildfolge als zyklische Wiederkehr des irdischen Lebens von der Erschaffung bis zu seinem Ende. Diese Lesart kontrastiert sie mit der nur aus Schriftquellen zu erschließenden inneren Ikonografie des Ratssaales mit einer Marienkrönung, einer Paradieslandschaft, einem Historienzyklus und der Genealogie der Dogen. Die hierfür schon von Andrew Martindale überzeugend in Anspruch genommene Parallelisierung von irdischer und himmlischer Herrschaft geht vermutlich auf den in Venedig mit Sicherheit rezipierten Fürstenspiegel von Thomas von Aquin zurück. [2] Ob sich hinter der Malerei im Innern und der Skulptur am Außenbau tatsächlich unterschiedliche Bildabsichten verbergen, wie es die Autorin postuliert (Selbstdarstellung im Innern - pädagogische Vermittlung des christlichen Weltbildes außen), darf bezweifelt werden. Trotz der zahlreich überlieferten Inschriften sind die Einzelbilder für eine didaktische Funktion zu schwer verständlich, darüber hinaus stellt sich die Frage, ob ein allgemein bildender Anspruch öffentlicher Bildprogramme im Mittelalter überhaupt denkbar wäre. [3] Naheliegender ist es, die beiden bildlichen Ausstattungen als unterschiedliche Auswirkungen der Guten Regierung zu interpretieren, damit wäre das venezianische Programm näher an die fast gleichzeitige Bildformel in Siena gerückt.
Die große Stärke, die das Buch zu einer soliden Ausgangsbasis für zukünftige Forschungen macht, ist die Arbeit am Detail. Die akribische Neulektüre der Schriftquellen, die intime Kenntnis der lokalen Befunde und die gewissenhafte Recherche der Ikonografie machen das Werk zu einem zuverlässigen Arbeitsinstrument. Die hieraus resultierenden Ergebnisse zur Baugeschichte, aber auch zur Gestaltung des Balkons und des Portals können hier im Einzelnen nicht aufgezählt werden. Gegenüber dieser Umsicht fällt der großzügigere Umgang mit dem überregionalen Vergleichsmaterial umso mehr ins Auge. Bei Fragen zur Architektur und deren Ausstattung beruft sich die Studie immer noch auf die Dissertation von Jürgen Paul aus dem Jahre 1963, als habe es inzwischen keine neueren regionalen Forschungen und nicht die Untersuchung von Robert Douglass Russell zu den Kommunalpalästen des 13. Jahrhunderts gegeben. Wesentliche Ergebnisse der Arbeit werden hierdurch jedoch nicht beeinträchtigt.
Anmerkungen:
[1] Manfred Schuller: Il Palazzo Ducale di Venezia. Le facciate medievali, in: L'architettura gotica veneziana, hrsg. von Francesco Valcanover und Wolfgang Wolters (Atti del convegno internazionale di studio, Venedig 1996), Venedig 2000, 351-427.
[2] Andrew Martindale: The Venetian Sala del Gran Consiglio and its fourteenth-century decoration, in: Painting the palace. Studies in the history of medieval secular painting, hrsg. von Andrew Martindale, London 1995, 144-192.
[3] Vgl. hierzu Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse, in: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, hrsg. von Hagen Keller u. a., München 1990, 211-229.
[4] Robert Douglass Russell: "Vox Civitatis": Aspects of Thirteenth-Century Communal Architecture in Lombardy, Diss. masch., Princeton 1988.
Stephan Albrecht