Bernd Carqué / Daniela Mondini / Matthias Noell (Hgg.): Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und der Moderne (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft; Bd. 25), Göttingen: Wallstein 2006, 643 S., 2 Bde., ISBN 978-3-8353-0047-7, EUR 39,00
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Der Kunsthistoriker hat ein eigenartiges Problem. Er interpretiert ein Kunstwerk dadurch, dass er es mit anderen Kunstwerken vergleicht, kann aber nur ein Kunstwerk im Original betrachten, während er für seine Vergleichsbeispiele auf Abbildungen zurückgreifen muss. Möchte er seine Ergebnisse publizieren, so benötigt er wiederum Abbildungen, die dem Leser als Ersatz für das Original dienen. Kunstgeschichte ist also im besonderen Maße von der medialen Vermittlung durch reproduzierende Bilder abhängig. Welche Folgen haben das Arbeiten und Argumentieren mit Reproduktionen für die Kunstgeschichte seit der Neuzeit bis in die frühe Moderne hinein? Diese Fragen erörtern die Beiträge des fast 1000 Seiten umfassenden, reich illustrierten Sammelbandes am Beispiel der mittelalterlichen Kunstgeschichte. Als Untersuchungsgegenstand wird also die Reproduktion zum Original.
Welche Rolle spielt in den frühen Überblickswerken die Reproduktion gegenüber dem Text? Welche Kriterien waren für die Auswahl der Beispiele verantwortlich? Wie sind sie zu einem Gesamtbild geordnet? Wo liegt dabei das Erkenntnisinteresse? In welcher Tradition steht der Darstellungsmodus? In der vorliegenden gedruckten Fassung einer Tagung am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte kommen dreizehn Fachkollegen zu Wort, die sich bereits seit längerer Zeit mit diesem aktuellen Thema auseinandergesetzt haben.
An verschiedenen Orten in Europa setzt im 17. Jahrhundert eine rege Publikationstätigkeit ein, die sich mit der Dokumentation herausragender Denkmäler der mittelalterlichen Geschichte beschäftigt. Als Kunsthistoriker bedienen wir uns heute dankbar dieser Sammlungen inzwischen oft verloren gegangener Kunstwerke. Ingo Herklotz analysiert eines der frühesten Dokumentationsprojekte zu den frühchristlichen und mittelalterlichen Mosaiken und Wandmalereien Roms, das von Papst Urban VIII. 1630-1640 initiiert wurde (Vätertexte, Bilder und lebendige Vergangenheit. Methodenprobleme in der Liturgiegeschichte des 17. Jahrhunderts). Das Zeichnungskonvolut ist vor allem aus einem liturgiegeschichtlichen Interesse heraus entstanden. Ähnlich wie in der zeitgenössischen klassischen Altertumswissenschaft dienen die Bilder dazu, dass Wissen um die abiti und riti zu erweitern. Die bildlichen Darstellungen zeichnen in den Augen der Auftraggeber eine "lebendigere Vergangenheit" als Texte, weil sie gerade Alltäglichkeiten wiedergeben, die in der Schrift zumeist als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Ein ähnliches kirchengeschichtliches Interesse war auch für Peiresc's Faksimile - Projekt der Cotton-Genesis verantwortlich, das Andrea Worm zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung zur Buchmalerei macht (Mittelalterliche Buchmalerei im Spiegel neuzeitlicher Publikationen). Erst im 18. Jahrhundert tritt dagegen vor allem in Frankreich auch ein nationalgeschichtliches Interesse in den Vordergrund. Eine besondere Bedeutung kommt Séroux d'Agincourts 1778-1790 entstandenem Zeichnungskonvolut "Histoire de l'Art par les Monumens depuis sa décadence au IVe siècle jusqu'à son renouvellement au XVIe siècle" zu (Daniela Modini: Die "fortuna visiva" römischer Sakralbauten des Mittelalters). Hierbei handelt es sich um die erste systematische Geschichte der Architektur, die nicht als Vorbildersammlung, sondern in Anlehnung an Winckelmann als Darstellung der historischen Wahrheit gedacht ist.
Gerade an überregionalen Überblicken zur Architekturgeschichte wird deutlich, wie stark der Zufall die Auswahl der Beispiele diktiert hat. Klaus Jan Philipp (Mittelalterliche Architektur in den illustrierten Architekturgeschichten des 18. und 19. Jahrhunderts) verdeutlicht dies an dem nicht einmal komplett ausgeführten Turm der Romboutkirche in Mecheln, der allein aus dem Grund in kaum einer Publikation fehlt, weil von ihm bereits seit dem 17. Jahrhundert eine gedruckte Zeichnung vorlag. - Lange Zeit werden die Architekturdarstellungen auf großen Tafeln vor allem nach ornamentalen, typologischen Gesichtspunkten angeordnet. Noch für Jean-Nicolas Durand findet Philipp die prägnante Charakterisierung: "Er historisiert nicht, er botanisiert." (404)
Der Quellenwert der Bilder wird von Anfang an ambivalent beurteilt. In den Bänden des 17. Jahrhunderts findet sich bereits der Versuch, ähnlich wie in der Paläographie den Stil als Mittel der Altersbestimmung einzusetzen. Wie stark diese Bewertung von Augenzeugenschaft mit juristischen Prozessen des 17. Jahrhundert zusammenhängt, zeigt Gabriele Bickendorf (Die Geschichte und ihre Bilder vom Mittelalter. Zur longue durée visueller Überlieferung) anhand des Werkes von Bernard de Montfaucon. Der Wahrheitsgehalt der Bilder ist indes zu dieser Zeit nicht unumstritten: Immer wieder wird betont, dass die Texte der Kirchenväter und Heiligen eine größere Autorität beanspruchen dürfen, als die materiellen Hinterlassenschaften der Zeit.
Mit dem Quellenwert der Bilder sind zwei weitere Fragenkomplexe verbunden, die in der Aufsatzsammlung zur Sprache kommen: Das Problem des Darstellungsmodus und der unterschiedlichen Gewichtung von Text und Bild. Der Darstellungsmodus ist bereits im Titel thematisiert und Gegenstand der Erörterung von Bernd Carqué (Sichtbarkeiten des Mittelalters. Die ikonische Repräsentation materieller Relikte zwischen Visualisierung und Imagination). Die Reproduktionen von wissenschaftlich-historischen Publikationen bewegen sich zwischen zwei Polen, die jeweils einer eigenen Tradition angehören. Auf der einen Seite steht die romantische Subjektivität des Sinneseindrucks und der Stimmung, auf der anderen die klassizistische formbezeichnende Linie, die Objektivität und zeichnerische Exaktheit evoziert. Beide Modi finden schon bei Leon Battista Alberti Erwähnung, der die illusionistische Darstellung für Laien empfiehlt und der linearen, technischen Zeichnung einen höheren Wahrheitsgehalt bemisst, weil sie die Vernunft und damit den Experten anspricht (Klaus Niehr: Dem Blick aussetzen. Das exponierte Kunstwerk.).
Die Argumentationskraft der Bilder wird von den Autoren unterschiedlich eingesetzt (Magdalena Bushart: Logische Schlüsse des Auges. Kunsthistorische Bildstrategien 1900-1930) . Die Skala reicht von der bloßen Illustration bis zur Selbstevidenz des reproduzierten Bildes. Besonders im Zusammenhang der "Schule des Sehens" zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat das Foto nicht nur dokumentarischen Wert, es soll bei Richard Hamann und Heinrich Wölfflin bereits herausarbeiten, was an dem Gegenstand kunsthistorisch bedeutend ist. Heute würden wir wohl von Manipulation sprechen. Wer hat nicht die Enttäuschung erlebt, die sich nach dem Genuss eines Proseminars über gotische Kathedralen beim Besuch des Originals ergibt, weil sich auch bei extremstem Wetter nicht dieser scharfe Eindruck einer "diaphanen Wandstruktur" einstellt, den die Fotos von Hans Jantzen erzeugen? Aber gehen wir heute besser, "wahrheitsgetreuer" mit den Reproduktionen um? Nein, anders! Das können wir aus der Dokumentarfotografie der 20er-Jahre lernen: Sie ist nicht sachlich, sie evoziert Sachlichkeit (Angela Matyssek: Grenzen des fotografischen Dokuments? Die Fotografien der "Deutschen Dome"). Auch wir sind Kinder unserer Zeit, abhängig von zeitgenössischen Bildvorstellungen. Hinter scheinbar unendlichen Möglichkeiten des digitalen Bildes lauern neue Versuchungen. Die Fotos, die wir aus Metadatenbanken herunterladen, haben nicht nur den geografischen und sachlichen Kontext verloren, sondern auch den Bezug auf ihren Urheber. Die Folgen von Photoshop auf das reproduzierte Farbfoto sind sicherlich viel tiefgreifender als Jantzens Rotfilter. Deshalb ist der Sammelband "Visualisierung und Imagination" ein wichtiges Buch, das nicht nur Wissenschafts- und Bildgeschichte betreibt, sondern uns für die eigene Bildargumentation sensibilisiert.
Stephan Albrecht