Daniela Mondini: Mittelalter im Bild. Séroux d'Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, Zürich: Zurich Interpublishers 2005, 407 S., ISBN 978-3-909252-13-8, EUR 64,00
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Mondinis ausgezeichnete Studie von Séroux d'Agincourts monumentaler sechsbändiger "Histoire de l'Art par les monumens" (begonnen 1778, publiziert 1810/1823) [1], fügt sich in eine Reihe jüngerer Veröffentlichungen zur frühen Wissenschaftsgeschichte der Kunstforschung ein. [2] Der französische Amateur plante, mit seinem Werk zur "epochalen 'terra incognita' zwischen Antike und Renaissance" "die Lücke in der Kunstgeschichtsschreibung zwischen Winckelmann und Vasari" (11) zu schließen. Auf der Basis der überlieferten Text- und Bildquellen schildert Mondini die Entstehung der Publikation und schlüsselt "Akzentverschiebungen" (151) auf. Sie untersucht Séroux' Biografie, seine Kontakte, den Abbildungsfundus mit dessen Aufnahme- und Ordnungsprinzipien, die Gründe für die verspätete Publikation, Form und Inhalt der Bände und deren didaktischen Impetus, mögliche Vorbilder ihrer Gestaltung, ihre Rezeption sowie generell das zeitgenössische Interesse an der Kunst der "décadence". Charakteristisch sei Séroux' "ambivalente Haltung [...] zwischen neugieriger Zuwendung und ästhetischer Verurteilung" (14). Mondini sieht in dieser frühen Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Kunst einen wichtigen Anstoß für die Ausbildung der Kunstgeschichte als historische Disziplin: Gerade die geringe ästhetische Wertschätzung verursachte demnach die Verschiebung "zu einer historischen Perspektive" (14).
Mit seinem Ansatz, die Geschichte der Kunst in Bildern zu erzählen, verknüpfte Séroux "die beiden Vorbilder Winckelmann und Montfaucon programmatisch" (149). Elementar ist dabei die Auffassung des Bildes als eine dem Wort überlegene "Autorität" (158). Die visuelle Argumentation sollte die Unterweisung in die Geschichte und in Gestaltungsprinzipien unterstützen: Séroux d'Agincourt mit seinem klassisch-klassizistischen Geschmack verfolgte eine "Didaktik der Abschreckung" (157) - es entstand ein "Katalog der Regelbrüche" (171).
Eine wichtige Grundlage für die Publikation stellt die Abbildungssammlung mit insgesamt 3.855 Bilddokumenten dar. [3] Verschiedene Faktoren beeinflussten die Auswahl: zufällig vorhandenes Bildmaterial, Neugierde, die Ergiebigkeit von Kampagnen wie die Zugänglichkeit der Werke. Den auf Vasaris Viten beruhenden Kanon ergänzte Séroux mit in regionaler Kunstliteratur aufgeführten oder zufällig entdeckten Werken. Entscheidend war - gemäß der zeitgenössischen Einschätzung der Chronologie als das "'natürlichste' Ordnungssystem" (132) - die inschriftlich gesicherte Datierung/Signatur. Minimale Notizen (Ort, Künstler, Datierung und Literatur) deuten seine Methode der "Wissensstiftung" an (72). Das gesammelte Material belegt eine nach Gattungseigenheiten ausgerichtete Aufnahmetechnik. Mondini erkennt dabei Abhängigkeiten der Modi von durch den Gegenstand vorgegebenen Bedingungen sowie von Darstellungstraditionen - bei den Aufnahmen zur Malerei und Skulptur ist wohl aufgrund fehlender Normen "ein hoher Grad an Willkürlichkeit" (135) zu beobachten.
Von den Kenntnissen seiner Manuskripte und des "visuellen Archivs" (146) profitiert Mondinis kritische Relektüre der Aussagen in Text und Bild zu ausgewählten Objekten. Das Beispiel der Katakombenmalerei zeigt, welch große Bedeutung Séroux Pausen als "Stilproben" (135) beimaß. Das Beispiel von Kapitellen in S. Paolo fuori le mura, Rom, offenbart für die Lesart entscheidende Eingriffe in die Illustration. Mondinis Fazit mahnt zur Bildkritik: "D'Agincourts Stiche geben gelegentlich weniger Auskunft über das Objekt, das sie abbilden, als über das Kunstgeschichtsbild der Zeit, der sie entstammen" (182).
Séroux selbst äußerte sich stolz über die Qualität und Authentizität seiner Illustrationen. Auffällig ist die Einheitlichkeit der Tafeln. Ihr spröder Charakter legt ein bewusstes "Sich-Verschließen vor dem 'Reiz', vor der 'Verführungskraft'" (247) nahe. Dem klassizistischen Geschmack angemessen scheint die Wahl des Umrissstichs. Zugleich gilt die Linie in zeitgenössischen Diskursen als das Mittel der Erkenntnis: Die Linie verwandelt ein Werk in ein "graphisches Präparat" (249). Die "Neutralisierung" (246) dient der Wissenschaftlichkeit. Séroux' Visualisierungsstrategie, "ein authentisches Abbild durch Unähnlichkeit" (247), beschreibt Mondini als Paradox - leicht nachvollziehbar am Verfahren der Pause, bei der das Original verdeckt sein muss, um die reine Form des Umrisses zu erhalten.
Mit besonderem Interesse reagieren viele Kunsthistoriker auf Séroux' "eigentümliche Bilddidaktik" der "tableaux comparatifs" (250f.). Die Methode des ordnenden Vergleiches entsprach im 18. Jahrhundert dem Experiment. Welche Ordnung machte nun Séroux im Vergleich sichtbar? Mondini sieht in der Art der Anordnung der Artefakte unterschiedliche Absichten artikuliert, einige davon seien kurz angedeutet: Tafeln, deren zugehöriger Text Veränderungen in Form oder Typus "genetisch-morphologisch" (261) erörtert, sind als "Entwicklungs-Tableaus" bezeichnet - die "Regieanweisung" (262) im Tafeltitel kann dabei die Komplexität der Materie, z.B. bei der Katakombenarchitektur die konzeptionelle Verbindung von Heiligengrab und Altar, kaum spiegeln. In der Malereisektion sind parallel zu Tiraboschis Forderung, "den Prioritätenstreit durch den Vergleich von Reproduktionen zu lösen" (266), die Überblickstafeln nach dem Schulenmodell angelegt, obwohl Séroux im Text argumentiert, dieses verschleiere den Blick auf den künstlerischen Fortschritt. Die Folge der Tafeln zeigt seine Entscheidung für die Vorrangstellung der toskanischen Kunst, der er die Schulen von Siena, Rom und Bologna nachordnet. Auf den systematischen Tafeln führen die Objekte die "Vielfalt der möglichen Abweichungen von der antiken Regel" vor Augen (256) - der zugehörige Text konzentriert sich dagegen auf das einzelne Stück. Intention dieser Bilderreihen ist der Beweis der Kontinuität der Kunst, selbst in der Zeit der "décadence".
Zwar ist Séroux' Bewertung oft mit Vorsicht zu genießen - Ausgangspunkt ist nicht nur im Falle der Katakombenmalerei das ästhetisch bedingte Vorurteil, "dass der zunehmende Grad an 'Hässlichkeit' nicht nur die ästhetische, sondern auch die zeitliche Distanz von der antiken Perfektion markiere" (193). Zeitgemäß bemühte er sich um eine historische Ordnung seines Materials. Séroux steht mit seinem Vorhaben am Anfang der kunsthistorischen Mittelalterforschung - entsprechend verständlich ist, "dass er sich an eine Periodisierung [...] herantastet" (208).
Mondini konstatiert Séroux' "'Scheitern' [...] an der Resistenz der Empirie vor Systematisierungen" (210). Nicht nur hier wird deutlich, dass der Blick zurück in die Wissenschaftsgeschichte der Reflexion der eigenen Methoden und ihrer Möglichkeiten dienen kann. [4] Die Kunstgeschichte hat endlich begonnen, "sich über Präsentationsverfahren ihrer Gegenstände [...] Rechenschaft" zu geben. [5] Abbildungen stellen wichtige Zeugnisse dar, die uns vom jeweils zeitgenössischen kunsthistorischen Blick berichten - auf zweierlei Art: Zum einen belegen sie die Sehweise und Intention derjenigen, die die Nachzeichnungen und Stiche etc. geschaffen haben, zum anderen beeinflussen sie die Rezeption derer, die die Originale nicht kennen. Mit Mondinis Dissertation entstand ein wertvolles Mosaikstück zu der erst kürzlich intensivierten Debatte um die "Funktion von Abbildungen im kunstwissenschaftlichen Diskurs" (13). [6] Wünschenswert wäre, dass die im Moment augenscheinlich in einer "Séroux-Renaissance" [7] kulminierte Diskussion mit einem deutlich breiteren Horizont weitergeführt wird. Der bewährte Fokus auf die Forschungspraxis sollte dabei beide Aspekte, die Erkenntnisarbeit und die Vermittlungsstrategien, im Auge behalten. Es werden noch viele Anstrengungen von Nöten sein, um eine profunde "Geschichte des kunsthistorischen Blickes" (15) vorlegen zu können.
Anmerkungen:
[1] Die Bände im Großfolio sind unter http://www.arthistoricum.net/themenportale/kunstgeschichte/ ressourcen-kunstliteratur-digital/seroux-d-agincourt/ (Letzter Aufruf: 3.12.2007) digitalisiert konsultierbar.
[2] Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Gabriele Bickendorf, Ingo Herklotz, Hubert Locher und Klaus Niehr.
[3] Die zeitnahe Durchführung der angekündigten Veröffentlichung dieses Materials wäre wünschenswert.
[4] Vgl. entsprechend die drei Beiträge zur Geschichte des kunsthistorischen Umganges mit "Stil" (Autoren: Klaus Niehr, Henrik Karge, Bruno Boerner) zu Beginn von Bruno Klein und Bruno Boerner (Hrsg.): Stilfragen zur Kunst des Mittelalters. Eine Einführung, Berlin 2006.
[5] Katharina Krause, Klaus Niehr und Eva-Maria Hanebutt-Benz (Hrsg.): Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1750 bis 1920. Ausstellungskatalog Mainz 2005, Zitat Seite 7.
[6] Hervorgehoben sei der Mainzer Ausstellungskatalog (wie Anm. 5) und der dazugehörige Tagungsband, Katharina Krause und Klaus Niehr (Hrsg.): Kunstwerk - Abbild - Buch. Das illustrierte Kunstbuch 1750-1930, München 2007, sowie: Matthias Bruhn (Hrsg.): Darstellung und Deutung. Abbilder der Kunstgeschichte, Weimar 2000; Bernd Carqué, Daniela Mondini, Matthias Noell (Hrsg.): Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelalters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne. 2 Bde, Göttingen 2006. Zu nennen sind ebenfalls aktuelle Dissertationsprojekte, siehe: http://www.arthistoricum.net/themenportale/kunstgeschichte/abstracts-projekte/ dissertationen/ (Letzter Aufruf: 3.12.2007)
[7] Vgl. dazu Klaus Niehr: Rezension von Daniela Mondini, Mittelalter im Bild. Séroux d'Agincourt und die Kunsthistoriographie um 1800, in: Kunstchronik, 60.2007, Nr. 8, 336-339, Zitat: Seite 336.
Susanne Müller-Bechtel