Charlotte Bühl-Gramer: Nürnberg 1850 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte; Bd. 62), Nürnberg: Stadtarchiv Nürnberg 2003, XVI + 712 S., ISBN 978-3-87432-139-6, EUR 45,00
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In dieser bei Rudolf Endres an der Universität Bayreuth entstandenen Dissertation analysiert die Verfasserin Anfänge und Ausbau der kommunalen Leistungsverwaltung Nürnbergs. Sie widmet sich damit jener Phase der durchbrechenden Moderne, in der epochale Basisprozesse Gestalt und Gesicht der Städte unumkehrbar veränderten: Industrialisierung und Urbanisierung. Zugleich sind die gewählten Zäsuren auch lokalpolitisch begründet, denn sie sind nahezu deckungsgleich mit tief greifenden personellen Einschnitten. Am Anfang der Untersuchung steht der revolutionäre Umbruch 1848/49, dessen unmittelbare Folgen auch zu Neubesetzungen an der Stadtspitze führten. Und sie endet mit dem Amtsantritt Johann Georg Ritters von Schuh (1892), der als Erster Bürgermeister das wilhelminische Nürnberg dominierte. In stadtbiografischer Hinsicht schließt Bühl-Gramers Studie jene noch bestehende Lücke im 19. Jahrhundert, in der die fränkische Metropole die Schwelle zur Großstadt überschritt, denn mit den biografisch angelegten Arbeiten von Rainer Mertens und Martina Bauernfeind sind sowohl die ersten Jahrzehnte der bayerischen Zeit unter Johannes Scharrer als auch die verwaltungspolitischen Grundprobleme der Hochindustrialisierung Nürnbergs unter der Ägide Schuhs bereits untersucht. [1]
In einer kurzen Einleitung (1-9) stellt die Verfasserin Vorgehensweise, Forschungsstand und Quellenbasis vor; die Quellen werden in erster Linie aus den vorzüglichen Beständen des Stadtarchivs Nürnberg geschöpft und wo nötig aus den staatlichen Archiven in Nürnberg und München ergänzt. Das bayerische Nürnberg kann gleichsam als ein Gegenpol zu vielen preußischen Städten gelten, deren Entwicklung vor allem in den Anfängen der Urbanisierungsforschung auf der Tagesordnung stand. Während in Preußen mit der Städteordnung von 1831 bereits relativ früh der Weg zur Einwohnergemeinde - und damit zu einer modernen Kommunalverfassung - beschritten worden war, gelang dies in Bayern erst mit der neuen Gemeindeordnung von 1869. Das bis dahin gültige und noch von der Regierung Montgelas entworfene Gemeindeedikt von 1818 gewährleistete zwar die kommunale Selbstverwaltung, unterwarf die Gemeinde aber einer straffen Staatsaufsicht. Freilich gelang auch 1869 nur ein halbherziger Schritt, denn nach wie vor beschnitt das Wahlrecht die kommunalpolitische Partizipation der in Bayern stark anwachsenden Fabrikarbeiterschaft, denn die Ordnung errichtete vermögensrechtliche Hürden und zementierte so das bürgerliche Stadtregiment bis ins 20. Jahrhundert; nicht von ungefähr waren viele Städte des Kaiserreichs ein Hort des liberalen Bürgertums.
Der Einleitung folgt ein erster größerer Abschnitt, der die grundlegenden Voraussetzungen kommunaler Selbstverwaltung abschreitet (10-103): Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen gilt das Augenmerk hier den personalpolitischen Entscheidungen an der Stadtspitze ebenso wie verschiedenen Formen der Selbstdarstellung. Auffällig ist neben einem Zug zur Politisierung des städtischen Raumes dabei vor allem, dass die Bürgermeister Nürnbergs im Unterschied zu vielen anderen Stadtoberhäuptern bei ihrem Amtsantritt weniger kommunalpolitischen Stallgeruchs bedurften und dass die Münchner Regierungszentrale die jeweiligen Amtswechsel in der zweitgrößten bayerischen Stadt nicht nur aufmerksam registrierte, sondern insbesondere nach den Erfahrungen der Revolution 1848/49 auch so weit wie möglich lenkte. Verfolgt wird in diesem Kapitel zudem die Expansion des städtischen Aufgaben- und Leistungstableaus, die nicht nur den Personalapparat anschwellen ließ, sondern auch eine Bürokratisierung und Professionalisierung maßgeblich beförderte. Letztere dokumentiert die intensivierte Kommunikation zwischen den Großstädten, die 1872 in einer einmonatigen Informationsreise des Ersten Bürgermeisters Otto Freiherr von Stromer und des Baurates Adolf Wolff durch zwölf Städte des Deutschen Reiches gipfelte.
Der zweite Abschnitt bildet zugleich den Kernbereich der Studie (104-574). Nach einem Blick auf Bevölkerungswachstum und -veränderungen sowie Probleme der Stadterweiterung entfaltet Bühl-Gramer die verschiedenen kommunalpolitischen Tätigkeitsfelder: von der Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur über die Ver- und Entsorgungseinrichtungen bis hin zur Armenfürsorge und dem Volksschulwesen. Dabei zeigt sich grundsätzlich, dass Initiativen zum Auf- und Ausbau der kommunalen Daseinsfürsorge zwar auch von staatlichen Aufsichtsbehörden, Privatpersonen, Vereinen und Komitees ausgingen, dass aber die städtischen Kollegien eine zunehmend gewichtigere Rolle spielten. In besonderer Weise tat sich die Stadtverwaltung dabei in den Bereichen des Schulwesens sowie der Ver- und Entsorgungseinrichtungen (Gaswerk und Wasserversorgung) hervor. Zwar begrenzten rechtliche Rahmenbedingungen und knappe Finanzen den Gestaltungsspielraum für kommunalpolitisches Handeln teilweise erheblich, aber einige Erfolge sind nicht zu verkennen, die sich zugleich in einen allgemeinen Trend fügen: Das in Nürnberg relativ früh errichtete (1847), zunächst in privater, seit der Reichsgründung in kommunaler Regie betriebene Gaswerk ist dafür ein gutes Beispiel. Bühl-Gramer skizziert in diesem Zusammenhang auch die dagegen gerichteten Proteste wegen Verschmutzung und Geruchsbelästigung und dokumentiert damit zugleich, wie eng Stadt- und Umweltgeschichte miteinander verknüpft sind. Während die Stadtverwaltung auch in der zum kommunalen Kernbereich zählenden Wasserversorgung Akzente setzte, macht die Verfasserin vor allem auf den Feldern der Armen- und Sozialfürsorge sowie des Wohnungsbaus Defizite aus. Und sie führt auch den teilweise erheblichen Widerstand aus der Bevölkerung gegen den Ausbau der Entsorgungseinrichtungen (etwa beim Kanalbau und der Grubenleerung) vor Augen.
Zwar wünscht man sich gelegentlich stärker typologisierende Passagen, aber dennoch liegt hier eine kenntnisreiche und quellengesättigte Studie zur Geschichte Nürnbergs im 19. Jahrhundert vor, welche zugleich die Urbanisierungsforschung um einige Facetten bereichert. Eine Zusammenfassung, ein umfangreicher Anhang mit zahlreichen Tabellen sowie ein Personenregister runden die Arbeit ab.
Anmerkung:
[1] Rainer Mertens: Johannes Scharrer. Profil eines Reformers in Nürnberg zwischen Aufklärung und Romantik, Nürnberg 1996; Martina Bauernfeind: Bürgermeister Georg Ritter von Schuh. Stadtentwicklung in Erlangen und Nürnberg im Zeichen der Hochindustrialisierung 1878-1913, Nürnberg 2000.
Nils Freytag