Kay Müller: Schwierige Machtverhältnisse. Die CSU nach Strauß, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, 259 S., ISBN 978-3-531-14229-6, EUR 32,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Helge Heidemeyer (Bearb.): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1953-1957, Düsseldorf: Droste 2003
Jaromír Balcar / Thomas Schlemmer (Hgg.): An der Spitze der CSU. Die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union 1946 bis 1955, München: Oldenbourg 2007
Andreas Kießling: Die CSU. Machterhaltung und Machterneuerung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004
Michael Weigl: Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden: NOMOS 2013
Andreas Zellhuber / Tim B. Peters (Bearb.): Die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1972, Düsseldorf: Droste 2011
Karlo Ruzicic-Kessler: Italiener auf dem Balkan. Besatzungspolitik in Jugoslawien 1941-1943, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Giovanni Orsina / Andrea Ungari (eds.): The "Jewish Question" in the Territories Occupied by Italians 1939-1943, Roma: Viella 2019
Andreas Kießling: Die CSU. Machterhaltung und Machterneuerung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004
Die CSU ist seit der Bundestagswahl vom 18. September 2005 zweifellos angeschlagen. Jede andere Partei hätte über 49,2 Prozent der Stimmen gejubelt, für die erfolgsverwöhnten Bayern bedeutete dieses Ergebnis bei einem Verlust von mehr als neun Prozentpunkten jedoch ein glattes Desaster. Diese Niederlage traf die Partei nicht nur unerwartet, sie legte auch eine Reihe von strukturellen Defiziten und organisationspolitischen Schwierigkeiten bloß, mit der die CSU bereits seit den Neunzigerjahren zu kämpfen hatte und die durch den "Stoiber-Effekt" mit zum Teil aufsehenerregenden Wahlsiegen seit 1998 (Landtagswahl vom 21. September 2003: 60,7 Prozent der Stimmen) nur zeitweise überdeckt worden sind.
Mit diesen endogenen und exogenen Problemen hat sich der Politologe Kay Müller in seiner Göttinger Dissertation befasst, die die Geschichte der CSU vom Tod von Franz Josef Strauß im Oktober 1988 bis zur Niederlage von Edmund Stoiber im Kampf um das Kanzleramt im September 2002 zum Thema hat. Genauer gesagt, geht es ihm darum, die Bedingungen für den seit den Fünfzigerjahren anhaltenden Erfolg der bayerischen Unionspartei zu erklären, die tieferen Ursachen der seit dem Tod von Franz Josef Strauß immer wieder sichtbaren Krisensymptome zu ergründen und nach den Perspektiven der CSU in einer sich zunehmend verändernden Gesellschaft zu fragen. Dabei ist die vergleichsweise schmale Arbeit umfassend angelegt. Der erste Teil befasst sich mit der Sozialstruktur der bayerischen Gesellschaft und versucht, soziostrukturelle Faktoren in Beziehung zur hegemonialen Stellung der CSU in Bayern zu setzen, ohne jedoch ganz auf der Höhe der historischen Forschung zu sein. Ein ebenso kurzes wie skizzenhaftes zweites Kapitel behandelt die Programmatik der CSU, wobei es weniger um die Inhalte von Parteiprogrammen als um ihre Funktion geht und die angekündigte Analyse von Symbolen und Identifikationsschemata über Ansätze nicht hinauskommt. Den eigentlichen Kern der Arbeit bildet das dritte Kapitel, in dem der Autor die verschiedenen Ebenen der Parteiorganisation unter die Lupe nimmt. Beginnend bei den Parlamentariern und Abgeordneten auf Bundesebene - hier wird auch das nie einfache Verhältnis zur Schwesterpartei CDU abgehandelt -, über die Landtagsfraktion und die von der CSU gestellte bayerische Staatsregierung dekliniert er die einzelnen Handlungs- und Organisationsebenen bis hin zu den Bezirken, Kreisen und Arbeitsgemeinschaften durch, wobei die Ausführungen zu den Führungsgremien der CSU freilich ebenso dürftig ausfallen wie die Bemerkungen zum Apparat der bayerischen Unionspartei.
Müller macht sich in diesem wichtigsten Kapitel seiner Dissertation auf die Suche nach dem "Herz der CSU" (93) oder - politikwissenschaftlicher ausgedrückt - nach ihrem "strategischen Zentrum" (19), wobei er mit Konzepten und Begriffen von Jürgen Weibler, Alexander Peter, Elmar Wiesendahl und Joachim Raschke operiert. Sein Ergebnis ist eindeutig, aber angesichts der Tatsache, dass die CSU nie die monolithische Partei gewesen ist, als die sie sich nach außen gerne darstellt, auch nicht überraschend: "Ein strategisches Zentrum gibt es in der CSU nicht, und wenn man diesen Begriff verwenden will, dann allenfalls für die [Landtags-]Fraktion oder die Staatskanzlei. Doch die Staatskanzlei ist eher ein strategisches Regierungszentrum. Die Fraktion und die Kreisverbände als anderes Machtzentrum eines eng verkoppelten Dualismus in der CSU haben eher negativen oder blockierenden Charakter. Nur in Krisensituationen können sie vorübergehend gestalterisches Potenzial entfalten. Dauerhaft sind von ihnen aber keine strategischen Konzeptionen [...] zu erwarten." (227) Besonders negativ fällt Müllers Fazit über den innerparteilichen Stellenwert der Bonner bzw. der Berliner Landesgruppe aus, der er nach der Berufung Theo Waigels zum Bundesfinanzminister im Jahr 1989 einen ständigen Machtverlust, ja geradezu einen Verfall ihrer einstigen operativen Schlüsselstellung bescheinigt. Allerdings muss dieses Fazit zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden, da Müller die praktische Politik aus seiner Analyse weitgehend ausgeblendet hat und so die entscheidende Frage, was die CSU im Bund für Bayern im Allgemeinen und ihre Klientel im Besonderen herausholen konnte, nicht beantworten kann. Hier wäre somit die Frage zu stellen, ob nicht das Gewicht der Bundesebene höher zu veranschlagen ist, als es auf den ersten Blick aussieht.
Diesen Eindruck hat man bei der Lektüre häufiger, oder anders gesagt, der Autor beschränkt sich zuweilen allzu sehr auf die Beschreibung von Sachverhalten und schenkt ihrer gewichtenden Einordnung oder historischen Verortung zu wenig Aufmerksamkeit. Wenn dann auch noch auffällige Widersprüche dazukommen - so schreibt Müller auf Seite 229, die CSU sei nach Strauß in vielem moderner und offener geworden, um vier Seiten weiter die "Re-Bajuwarisierung der CSU nach Strauß" für das Scheitern der Kanzlerkandidatur Edmund Stoibers im Jahr 2002 verantwortlich zu machen - macht sich Verwirrung breit, zumal man sich bei der Aufzählung von Defiziten, Problemen und Fehlleistungen zu fragen beginnt, warum die CSU in Bayern nach wie vor unangefochten regiert. Leider verliert Müller in diesem Zusammenhang kaum ein Wort über die anderen Parteien im Freistaat, insbesondere über die SPD, und er misst auch den von der CSU überformten Resten bayerischen Eigenbewusstseins kein großes Gewicht zu, obwohl das spezifisch Bayerische und der Gegensatz Bayern - Bund offensichtlich nach wie vor Wahlentscheidungen beeinflussen.
Alles in allem ruft Müller dem Leser mit seinem Buch die wichtigsten Stationen der Geschichte der CSU nach dem Tod von Franz Josef Strauß in Erinnerung und holt dabei manch fast vergessene Episode wie den gescheiterten Versuch einer Expansion nach Osten über die Adoption der DSU in den neuen Bundesländern aus dem Dunkel. Allerdings kratzen seine Ausführungen des Öfteren nur an der Oberfläche. Das rührt nicht zuletzt daher, dass sich Müller vornehmlich auf die Kommentare und Analysen der politischen Publizistik stützt, die - der Natur dieses Mediums gemäß - situationsbezogen und vielfach kurzatmig sind und daher keinesfalls unkritisch verwendet werden sollten. Als Einstieg in die Geschichte der CSU nach Strauß taugt die hier besprochene Arbeit, inwieweit ihre Einschätzungen der weiteren Forschung standhalten, wird sich zeigen.
Thomas Schlemmer