Asfa-Wossen Asserate / Aram Mattioli (Hgg.): Der erste faschistische Vernichtungskrieg. Die italienische Aggression gegen Äthiopien 1935-1941 (= Italien in der Moderne; Bd. 13), Köln: SH-Verlag 2006, 197 S., ISBN 978-3-89498-162-4, EUR 29,80
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Aram Mattioli: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941. Mit einem Vorwort von Angelo Del Boca, Zürich: Orell Füssli Verlag 2005
Aram Mattioli: "Viva Mussolini!". Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010
Im April 1939 kam es bei Debra Birhan, etwa 100 Kilometer nördlich von Addis Abeba, zu einem furchtbaren Massaker. Die italienische Luftwaffe hatte eine große Gruppe abessinischer Rebellen aufgespürt, die sich daraufhin mit ihren Familien in ein Höhlensystem zurückzogen. Das vermeintlich sichere Versteck erwies sich freilich als tödliche Falle, als die Soldaten des "Duce" die Eingänge blockierten und mit Giftgas gefüllte Granaten ins Innere der Höhle feuerten. Wer nicht jämmerlich erstickte und auf der Flucht den italienischen Truppen in die Hände fiel, wurde hingerichtet. Flammenwerfer vollendeten schließlich die grausame Aktion, der mindestens 1000 Menschen zum Opfer fielen.
Diese Episode aus einem hierzulande fast vergessenen Krieg findet sich im einleitenden Aufsatz eines Sammelbandes, den der Historiker Aram Mattioli (Universität Luzern) zusammen mit Asfa-Wossen Asserate, einem Großneffen des letzten äthiopischen Kaisers, herausgegeben hat. Mattioli ist bereits seit längerem bemüht, den Eroberungskrieg, den das faschistische Italien gegen Abessinien führte, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückzuholen und im Kontext der totalen Kriege im Jahrhundert der Gewalt neu zu interpretieren. [1] Der Konflikt in Ostafrika erscheint dabei nicht als konventioneller Kolonialkrieg, sondern als "Laboratorium der Massengewalt" (9), als "der erste faschistische Vernichtungskrieg" und als Bindeglied "zwischen den Kolonialkriegen des imperialistischen Zeitalters und Hitlers Lebensraumkrieg" (24f.).
Mit dieser Interpretation rückt aber nicht nur der Abessinienkrieg aus der Peripherie näher an das Zentrum der Geschichte des 20. Jahrhunderts heran, auch Faschismus und Nationalsozialismus erscheinen so als giftige Früchte vom selben Stamm. Mattioli begründet seine Sicht der Dinge mit dem exzessiven Einsatz militärischer Machtmittel durch die Invasoren aus dem faschistischen Italien, mit der Brutalität der Kriegführung gegen Kombattanten und Nichtkombattanten, die im völkerrechtswidrigen Einsatz von Giftgas und regelrechten Menschenjagden aus der Luft gipfelte, mit den terroristischen Methoden bei der Bekämpfung aktiven und passiven Widerstands, mit der gezielten Liquidierung indigener Führungsschichten, wobei er den "Tatbestand des Soziozids" (18) erfüllt sieht, sowie mit der Umsetzung einer ideologisch wie rassisch begründeten Lebensraumpolitik. Wie viele Menschen diesem Krieg zum Opfer fielen, der 1935 begann und erst mit der Niederwerfung der italienischen Streitkräfte durch britische Truppen im Mai 1941 endete, weiß man bis heute nicht; die Angaben schwanken zwischen 350.000 und 760.000.
Von den zwölf Aufsätzen des Sammelbandes, die überwiegend auf eine Tagung an der Universität Luzern im Oktober 2005 zurückgehen und aus der Feder von Autoren stammen, die fast alle einschlägige Studien zum Thema vorgelegt haben, befassen sich fünf direkt mit den für Mattiolis Interpretation zentralen Gesichtspunkten von Kriegführung, Besatzungspolitik und Gewalt. Giulia Brogini Künzi thematisiert "Aspekte der Totalisierung des Kolonialkrieges", Rainer Baudendistel beschreibt völkerrechtsverletzende Angriffe auf Einrichtungen unter dem Schutz des Roten Kreuzes und Gabriele Schneider das "Apartheidsystem in Italienisch-Ostafrika". Am bedrückendsten sind sicherlich die Beiträge von Angelo Del Boca und Matteo Dominioni. Del Boca, der Nestor einer kritischen italienischen Kolonialgeschichte, hat es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, den Beweis für den verbrecherischen Einsatz von Giftgas durch die italienischen Truppen nicht nur zu führen, sondern diese Erkenntnis auch in der Öffentlichkeit durchzusetzen. Er zeigt auf wenigen Seiten, dass sich dieser Beweis gleichsam bis zur letzten Senfgas-Granate antreten lässt und dass große Teile der italienischen Gesellschaft mit einflussreichen Meinungsmachern wie dem Journalisten (und ehemaligen Abessinien-Kämpfer) Indro Montanelli an der Spitze den Gaskrieg in Ostafrika jahrzehntelang vehement bestritten haben. Erst 1996 gestand die italienische Regierung offiziell den Gebrauch von Giftgas und die Mitverantwortung der militärischen Führungsspitze um Marschall Pietro Badoglio ein. Matteo Dominioni, ein junger Historiker von der Universität Turin, hat sich dagegen intensiv mit dem Krieg der italienischen Besatzungsmacht gegen die abessinischen Rebellen befasst. Er gewinnt diesem Thema neue Einsichten in Strukturen, Mechanismen, persönliche Verantwortlichkeiten und Tötungshandlungen ab, und man kann erwarten, dass seine Dissertation nach ihrer Veröffentlichung unser Bild von der "Konterguerilla" in Abessinien erheblich schärfen wird.
Die übrigen Autoren behandeln entweder die Situation an der Heimatfront wie Petra Terhoeven mit ihrem Beitrag über die Mobilisierung der italienischen Gesellschaft am Beispiel der giornata della fede oder Gerald Steinacher mit seinem Aufsatz über Südtirol und den Abessinienkrieg, Aspekte der internationalen Politik wie Aram Mattioli ("Das Versagen der Weltgemeinschaft") sowie Fragen der "Vergangenheitsbewältigung". Während Wolfgang Schieder ("Die Verdrängung der faschistischen Tätervergangenheit im Nachkriegsitalien") dieses Feld im Überblick ausleuchtet, skizziert Aram Mattioli ("Das sabotierte Kriegsverbrechertribunal"), warum nicht einmal die Hauptverantwortlichen für die italienische Kriegführung und Besatzungspolitik vor Gericht gestellt wurden. "Die Sabotage eines 'afrikanischen Nürnberg'", so seine Schlussthese, habe wesentlich dazu beigetragen, dass "Mussolinis Diktatur nie als jenes brutale Massentötungsregime ins kollektive Gedächtnis der Europäer einging, das sie war" (161). Die Stimme Äthiopiens ist im Konzert der Autoren nicht allzu laut, doch sie fehlt nicht, wie oftmals, wenn vom Abessinienkrieg die Rede ist. Der Historiker Bahru Zewde informiert in Grundzügen über Krieg, Besatzung, Befreiung und Erinnerung aus äthiopischer Sicht.
Alles in allem ermöglicht es der Sammelband seinen Lesern, sich rasch und zuverlässig über die neuere Forschung zur Geschichte des Abessinienkrieges zu informieren. Er ermöglicht zudem eine Auseinandersetzung über Aram Mattiolis zugespitzte Thesen, die diesen Krieg und die italienische Besatzungsherrschaft in dieselbe Kategorie einordnen wie den "deutschen Besatzungsterror in Polen" (22). Darüber wird ebenso zu diskutieren sein wie über die Frage nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen dem Faschismus Benito Mussolinis und dem Nationalsozialismus Adolf Hitlers, die nach wie vor nicht abschließend geklärt ist.
Anmerkung:
[1] Aram Mattioli: Entgrenzte Kriegsgewalt. Der italienische Giftgaseinsatz in Abessinien 1935-1936, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 51 (2003), 311-337, und ders.: Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935-1941, Zürich 2005.
Thomas Schlemmer