Rezension über:

Wolfgang Schieder: Der italienische Faschismus 1919-1945 (= C.H. Beck Wissen; 2429), München: C.H.Beck 2010, 127 S., ISBN 978-3-406-60766-0, EUR 9,20
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Erik Lommatzsch
Universität Augsburg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Erik Lommatzsch: Rezension von: Wolfgang Schieder: Der italienische Faschismus 1919-1945, München: C.H.Beck 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 11 [15.11.2011], URL: https://www.sehepunkte.de
/2011/11/18936.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Wolfgang Schieder: Der italienische Faschismus 1919-1945

Textgröße: A A A

Konzise und souverän beschreibt Wolfgang Schieder, einer der besten deutschen Kenner der Materie, den italienischen Faschismus. Dabei kratzt er recht vernehmlich am Mussolini-Bild des 1996 verstorbenen römischen Historikers Renzo De Felice.

Bevor mit dem Gründungsdatum - festgemacht an der Formierung des ersten Fascio Italiano di Combattimento in Mailand am 23.3.1919 - Schieders eigentliche Darstellung einsetzt, werden die Entstehungsbedingungen umrissen. Als Sonderweg müsse die Entwicklung in Italien auf jeden Fall verstanden werden und selbst wenn man den Faschismus als europäisches Phänomen betrachte, so sei er doch in Italien entstanden und ein historisches Novum, an dem sich alle anderen faschistischen Bewegungen orientierten. Zu verstehen sei er nur aus den Besonderheiten der italienischen Entwicklung. Verwiesen wird hier auf das Zusammentreffen der drei krisenhaften Erscheinungen des sich als unvollendet empfindenden Nationalstaates, der Unfähigkeit der Parteien des im 19. Jahrhundert entstandenen liberalen Staates zu Kompromissen und einer entsprechenden Lähmung sowie der wirtschaftlich ungleichgewichtigen Entwicklung. Im Unterschied zum Begriff "Sonderweg" (der immer die durchaus überlegenswerte Frage nach dem "Normalweg" impliziert) ist bei Schieder von "verspäteter Nation" nicht die Rede.

Der Betrachtung der Entstehungsbedingungen folgt die Geschichte des Faschismus als Bewegung und Diktatur. Zwischen 1919 und 1922 wird der Faschismus als politische Bewegung charakterisiert, die sich eher zur Antipartei stilisierte, nicht ursprünglich programmgesteuert war und auf "Aktion" setzte. Deutlich hervorgehoben ist von Anfang an die Rolle Benito Mussolinis. Dessen politische Anfänge beim Partito Socialista Italiano wollen so gar nicht zu seinem späteren Agieren passen. Allerdings zeigt seine "Wandlung" auch, wie wenig er ideologisch festgelegt war. In der Konsolidierungsphase konnten weder die Extremfaschisten eine Parteidiktatur durchsetzen, noch gelang es deren Sympathisanten innerhalb des Bürgertums, den Fiancheggiatori, ein monarchisches Diktaturregime unter Absorption der faschistischen Bewegung zu installieren. Mussolini war es, der eine persönliche Führerdiktatur errichtete, indem er sich in einer Art "Doppelstrategie" auf beide Strömungen stützte. Nach dem "Marsch auf Rom" wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt. Zwischen 1922 und 1929 formte sich das Diktatursystem aus; die "verfassungsmäßige Inkubationsphase der faschistischen Diktatur" (44f.) gilt mit der "Konstitutionalisierung" des Gran Consiglio im Oktober 1928 und den "Wahlen" zum Parlament im März 1929 als abgeschlossen. Bis zu seinem Sturz im Juli 1943 stand Mussolini quasi unumschränkt an der Spitze seines diktatorischen Regimes.

Wolfgang Schieder arbeitet deutlich heraus, dass das von Mussolini geschaffene System sowohl auf Konsens als auch auf Gewalt beruhte. Betont wird, dass Mussolini, im Gegensatz zu weit verbreiteten Annahmen, er habe sich zunächst fast ausschließlich mit der Konsolidierung im Inneren befasst, an der Gestaltung der Außenpolitik von Anfang an Anteil nahm. Umrissen werden die Bestrebungen bezüglich Autarkiepolitik, Bevölkerungspolitik und kolonialem Imperialismus, die zu einem "dynamischen Komplex" verschmolzen, "welcher der faschistischen Politik in den dreißiger Jahren eine spezifische Prägung gab" (49).

Stärker als andere betont Schieder den Expansionsdrang und die rassistischen Elemente der Politik Mussolinis, wobei die "Rassenfrage" im italienischen Faschismus nicht über die Juden, sondern (zunächst) über die Afrikaner - im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg - aufkam. Bei der Darstellung der antisemitischen Maßnahmen stellt Schieder jedoch heraus, dass es in Italien nicht "zu einem angewandten Rassismus mit [...] biologisch begründetem Massenmord gekommen ist" (64f.).

Auch die Rolle der von Mussolini 1936 ausgerufenen "Achse Rom-Berlin" wird hier höher veranschlagt, als es in der gängigen Literatur der Fall ist. Aufgezeigt wird die "Vielfalt der Achse" (76-83), d.h. die intensiven transnationalen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien. Es wird die These vertreten, die faschistische Diktatur in Italien wäre ohne eine solche Anlehnung an das geistesverwandte NS-Regime eher zusammengebrochen als es tatsächlich der Fall war.

Umstritten ist bis heute, ob dem faschistischen Staat eine Ideologie zugrunde lag. Auch Schieder beantwortet die Frage nicht eindeutig. Er verweist auf mehrere parallel laufende Diskurse und auf die Tatsache, dass die Debatte um die Ausgestaltung des Korporativismus den breitesten Raum einnahm sowie auf eine gewisse Verbindlichkeit der "Romanità fascista", des Rom-Mythos, der sich nicht nur in Titeln ("Duce"), sondern auch in der Architektur niederschlug. Von einem geschlossenen politischen (Denk-) System war das alles aber weit entfernt.

Als charismatischer Führer in hohem Maße konsens- und damit erfolgsabhängig, konnte Mussolini seine Position nach militärischen Niederlagen und sich verstärkenden wirtschaftlichen Problemen nicht halten. Nach seinem Sturz stand er - abhängig von den Deutschen - formell bis zu seiner Erschießung durch Partisanen im April 1945 an der Spitze der Repubblica Sociale Italiana (RSI).

Schieder unterstreicht, dass die italienische Resistenza zur Befreiung vom Faschismus beigetragen habe, verweist aber darauf, dass es sich bei der in der Nachkriegszeit üblichen Darstellung der Resistenza als breite Volksbewegung um eine "invention of tradition" handle. In Italien habe zunächst keine Auseinandersetzung mit dem Faschismus stattgefunden, die "ritualisierte Geschichte der 'Resistenza' wurde zur Meistererzählung der italienischen Politik erhoben" (112). Weder die politische Rechte noch die Linke hatten Interesse an einer kritischen Aufarbeitung des Faschismus. Aufgebrochen worden sei das Ganze zunächst Mitte der 1970er Jahre durch Renzo De Felice, der mit seiner Mussolini-Biographie [1] angestrebt habe, den Faschismus in die Normalität der italienischen Geschichte einzuordnen und damit der Resistenza ihre historische Legitimation zu entziehen. Allerdings seien seine "revisionistische Intentionen" nach Schieder unter "Materialbergen" des Werkes nicht mehr erkennbar gewesen. Um sich Gehör zu verschaffen, habe De Felice polemisiert und zugespitzt [2], unter Ausblendung des Terrors den Konsenscharakter des Regimes betont, auf dessen modernisierende Wirkung verwiesen und den Faschismus folglich nicht als Bruch, sondern als Fortsetzung des liberalen Italien interpretiert. Durchsetzen konnte er sich mit diesen Ansichten nicht.

Man merkt deutlich, dass De Felice zumindest in wissenschaftlicher Hinsicht nicht zu Schieders Freunden zählt. Die mit über 7000 Seiten zugegebenermaßen etwas umfangreiche Mussolini-Biographie wird qualifiziert als "ein riesiger Steinbruch [...], aus dem man sich die Bausteine für eine wirklich kritische Sicht des Diktators zusammensuchen muß" (113), und er widerspricht De Felices Thesen häufig, etwa wenn dieser behauptet, Mussolini habe bis zum Münchener Abkommen die bestimmende Position zwischen Hitler und den Westmächten einnehmen wollen. Schieder hingegen meint, die Bindung Mussolinis an Hitler sei von Anfang an existent gewesen. De Felices Überlegung, Mussolini habe sich 1943 an die Spitze der RSI setzen lassen, um die Italiener vor dem schlimmeren Schicksal der deutschen Besatzung zu bewahren und sich somit als eine Art Märtyrer geopfert, wird gleich doppelt zurückgewiesen (102, 114).

Ungeachtet der Beurteilung De Felices sollte es allerdings noch bis Anfang der 1990er dauern, bis das Wirken der Resistenza - die in der RSI auch einen Bürgerkrieg gegen Italiener führte - kritisch hinterfragt werden konnte und eine offenere Diskussion möglich wurde.

Insgesamt: Ein besserer, nahezu alle Facetten des italienischen Faschismus umreißender und in strittigen Fragen auch die Gegenpositionen aufzeigender, deutschsprachiger Überblick als das nur reichlich 100 Seiten umfassende Buch von Wolfgang Schieder dürfte nur schwer zu finden sein.


Anmerkungen:

[1] Renzo De Felice: Mussolini il rivoluzionario; Mussolini il fascista (2 Bde.); Mussolini il duce (2 Bde.), Mussolini l'alleato (3 Bde.), Turin 1965-1997.

[2] Vgl. z.B. Renzo De Felice / Michael Ledeen: Intervista sul fascismo, Bari 1975 (u.ö.)

Erik Lommatzsch