Christiane Brenner / Peter Heumos (Hgg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, DDR 1945-1968 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum; Bd. 27), München: Oldenbourg 2005, 558 S., 38 Abb., ISBN 978-3-486-57696-2, EUR 59,80
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Peter Hübner / Christoph Kleßmann / Klaus Tenfelde (Hgg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit (= Zeithistorische Studien; Bd. 31), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, 515 S., 43 Farb-, 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-18705-7, EUR 57,90
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Hermann-J. Rupieper / Friedrike Sattler / Georg Wagner-Kyora (Hgg.): Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2004, 416 S., ISBN 978-3-89812-246-7, EUR 21,00
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Christoph Kreutzmüller: Händler und Handlungsgehilfen. Der Finanzplatz Amsterdam und die deutschen Großbanken 1918-1945, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2005
Mark Jones: Am Anfang war Gewalt. Die deutsche Revolution 1918/19 und der Beginn der Weimarer Republik, Berlin / München: Propyläen 2017
Heike Wolter: "Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd". Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt/M.: Campus 2009
"Arbeitergeschichte" - dieses Etikett suggeriert doppelte Vergangenheit: Es geht nicht nur um verflossene Zeiten; auch die thematisierten historischen Objekte selbst, "Arbeiterklasse" und "Arbeiterbewegungen", scheinen heute im Verschwinden begriffen, ihre Thematisierung scheint mithin eine Angelegenheit für Nostalgiker zu sein. Sich der "Arbeitergeschichtsschreibung" zu widmen, so ironisiert Dietmar Süß in seinem Beitrag in dem Aufsatzband über die Geschichte der Arbeiter in der mitteldeutschen Chemieindustrie, habe "inzwischen fast schon etwas Romantisches", wie wenn man "über eine versunkene Welt voller Dämonen und heldenhafter Zwerge sprechen" wolle.
Einen "Hauch von Wehmut" findet man auch in manchen Beiträgen der anderen Bände, etwa in der Einleitung von Klaus Tenfelde in dem von ihm mitherausgegebenen Band über "Arbeiter" in der DDR. Der Übergang von der "Industrie-" zur so genannten "Dienstleistungsgesellschaft" macht dem überkommenen Proletariat den Garaus, so jedenfalls ein verbreitetes Diktum. Ob dies der Fall sein oder sich die Klassenfrage in anderem Gewande neu stellen wird, ist indes offen. Tenfelde führt die in der Bundesrepublik zu beobachtende weit gehende Vernachlässigung der Arbeitergeschichte lediglich auf einen vorübergehenden "internationalen Schwächeanfall der Gewerkschaften im Zeitalter der Globalisierung" zurück. Das mag sein. Hinter dem weit gehenden Desinteresse der deutschen Historikerzunft an "Arbeitergeschichte" steckt jedoch mehr. Denn gleichzeitig boomt die Bürgertumsgeschichte - obwohl sich auch das (klassische) Bürgertum als der soziale Antipode des Proletariats seit Jahrzehnten in Auflösung befindet. Offensichtlich konzentriert sich der Mainstream der deutschen Historiografie dennoch lieber auf die Ausleuchtung des historischen Bürgertums. Umso erfreulicher ist es, dass sich noch eine Reihe von Historikern der scheinbar untergegangenen Welt der Arbeiter und der Sozialbeziehungen in Industriebetrieben widmet. Die vorliegenden Publikationen legen Zeugnis nicht nur von empirischem Fleiß, sondern auch von konzeptioneller und methodischer Produktivität ab.
In dem Band "Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert" wird Letzteres freilich nicht so rasch deutlich. Zunächst ist festzustellen, dass in diesem Buch thematisch die SBZ/DDR im Zentrum steht und keineswegs das gesamte 20. Jahrhundert. Das mag angesichts der immerhin vierzig Jahre DDR angehen. Ärgerlich ist dagegen, dass die Einleitung der beiden (nach dem Tode von Rupieper) verbliebenen Herausgeber nicht kompetent in den Band einführt. Ihre Kenntnis der Forschung reicht im Grunde nicht über den Horizont der DDR-Historiografie hinaus; zentrale Arbeiten zu NS-Sozialgeschichte, die die innere Verfassung, Handeln und Mentalität der Arbeiterschaft zum Thema gehabt und auch die kleinteiligen industriellen Sozialbeziehungen während des "Dritten Reiches" gründlich unter die Lupe genommen haben, sind ihnen offensichtlich völlig unbekannt. Erinnert sei nur an Namen wie Mason, Peukert, Siegel, v. Freyberg, Sachse und Frese; lediglich Alf Lüdtke wird erwähnt, dessen Arbeiten zum Nationalsozialismus zwar manche originelle Idee enthalten, jedoch methodisch oft auf recht wackeligen Füßen stehen. So nimmt es denn nicht wunder, dass Sattler und Wagner-Kyora einleitend einen Popanz aufbauen: Sie warnen vor einer "strukturgeschichtlichen Sackgasse" der NS-Sozialgeschichte und fordern stattdessen pathetisch die "Neuausrichtung" auf eine "facettenreiche Gesellschaftgeschichte", die die "handelnden Akteure ernst nimmt" und deren individuelles und kollektives Handeln "nicht losgelöst vom Kontext der Fertigungstechniken, Produktionsstrukturen, Effizienzkalkülen und andere Unternehmensstrategien" betrachtet. Genau das wurde und wird in der NS-Sozialgeschichtsschreibung jedoch seit einem Vierteljahrhundert gemacht. Auch mit ihrer Forderung, "die Bedeutung von Bindungen außerhalb des 'Klassenmusters', etwa von Geschlecht, Generation und ethnischer Zugehörigkeit, für die Ausprägung von individuellen und kollektiven Erfahrungshintergründen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie die dadurch geprägten Mentalitäten" stärker zu beachten, rennen Sattler und Wagner-Kyora sperrangelweit geöffnete Türen ein. Statt sich mit der NS-Forschung auseinander zu setzen, schreiben sie in ihre Einleitung apodiktische Verdikte über "krasse Fehlurteile" hinein, etwa zu einer angeblichen These, die "kontinuierliche Dequalifizierung von industrieller Lohnarbeit durch eine beständig anwachsende Managementkontrolle" zum Inhalt habe; wohlweislich verzichten sie anschließend auf irgendwelche Hinweise darauf, wo diese angeblichen Fehlurteile nachzulesen sind. Oder sie warten mit trivialen Sätzen wie dem auf, dass "Betriebe die gesellschaftlichen Strukturen widerspiegeln".
Dass die Herausgeber überdies den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden, zeigt sich am Beitrag von Sattler über die "mitteldeutsche Chemieindustrie im 20. Jahrhundert". Dieser Aufsatz, oberflächlich eine solide deskriptive Darstellung, enthält bei genauerem Hinsehen ausgerechnet in seinem NS-Teil eine Reihe unternehmens-apologetischer Passagen. Dort heißt es beispielsweise, die "mitteldeutsche Chemieindustrie", d. h. vor allem der IG Farbenkonzern in und um Bitterfeld, habe das "Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom Januar 1934, die Implementierung der NS-Vertrauensräte und die Entmündigung der Arbeiterschaft "hingenommen" (140, 144 f.). Es hätte gereicht, hier den 'klassischen' Aufsatz von Mason aus dem Jahre 1977 zur Kenntnis zu nehmen, um zu wissen, dass die Industrie maßgeblichen Einfluss auf die Formulierung dieses "Grundgesetzes" der Arbeit im Nationalsozialismus genommen hat. Bemerkenswert sind weiter die von Sattler ausgerechnet für die NS-Zeit benutzten zahllosen passivischen Formulierungen - es "wurde" im Zweiten Weltkrieg schwer misshandelt, gestraft, schlecht verpflegt usw. Da, wo es spannend wird, kneift die Autorin und spricht von "barbarischer Logik der Zwangsarbeit", als hätte die ein Eigenleben besessen: Wer waren die zentralen Akteure? Wie weit waren die Unternehmensführungen in die Ausbeutung (ein Begriff, der bezeichnenderweise nicht auftaucht) der "Fremdarbeiter" involviert? Statt solchen Fragen nachzugehen, wird sibyllinisch von einer "immer stärkeren Anpassung unternehmerischer Entscheidungen" an die "Interessen des Regimes" gesprochen, von "Hinnahme" im Interesse "erfolgreicher Konjunkturbelebung" usw. Symptomatisch ist, dass der Name Carl Krauch hier nicht auftaucht (sondern lediglich im Kontext des Baus der Bitterfelder Werke 1916 erwähnt wird). Krauch, seit 1934 Vorstandsmitglied der IG Farben, seit 1940 Aufsichtsratsvorsitzender dieses riesigen, in Deutschland fast monopolartigen Konzerns, war seit 1938/39 gleichzeitig Chef des wirtschafts- und wissenschaftspolitisch höchst einflussreichen Reichsamtes für Wirtschaftsausbau sowie, gleichfalls seit 1938, "Generalbevollmächtigter für Sonderfragen der chemischen Produktion". Über die konzernbezogene wie allgemeine Politik dieses "kleinen Nazidiktators", wie ihn Zeitgenossen titulierten, wüsste man mit Blick auf "Mitteldeutschland" und die NS-Zeit gern mehr. Was bedeutete die herausragende politische Rolle Krauchs für die Bitterfelder IG Farben z. B. mit Blick auf Managemententscheidungen? Wie wurden durch die von Krauch besonders eindrücklich verkörperte Regimenähe die betriebsinternen Sozialbeziehungen dieses Konzerns geprägt? Was bedeutete dies für die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte? Bei Sattler erfährt man darüber nichts. Unter ihrer Feder wird der Konzern letztlich zum hilflosen Objekt einer Diktatur, die überdies offenbar personalistisch auf Hitler und seine engste Führungsriege verengt wird.
Welche Variante von "Unternehmensgeschichte" schwebt Sattler und ihrem Mitherausgeber eigentlich vor? Vielleicht das, was Anne Niebending in ihrem Aufsatz zur "Unternehmenskultur in historischer Perspektive" zu Papier gebracht hat? Hier hat man den Eindruck, dass derzeit modische betriebswirtschaftliche Elaborate im Verhältnis eins zu eins affirmativ auf die Geschichte projiziert werden, auch sprachlich. So werden Interessendivergenzen zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zum Verschwinden gebracht, aus sozialen Kontakten und Konflikten Kooperationen von "Interaktions-" und "Kommunikationspartnern". "Informationsasymmetrien zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses" ist noch die kritischste Bemerkung, die sich aus diesem Aufsatz herausfiltern lässt. Und immer wieder Worthülsen wie z. B. die: "Weil die partielle Sinnwelt des Unternehmens leichter zu entthronen ist als die in primärer Sozialisation internalisierten Sinnschichten, bietet sich Spielraum für Widerständigkeit gegenüber der angestrebten Sollwelt." Schließlich redet Niebending die autoritär-paternalistische Sozialpolitik der frühen Unternehmergeneration schön und präsentiert "alten Wein" nicht in neuen, sondern in sattsam bekannten "alten Schläuchen". Dass die umfangreiche Forschung zur betrieblichen Sozialpolitik nicht einmal ansatzweise aufgearbeitet ist, sei nur am Rande erwähnt.
Gleichwohl sollte man den Band nicht vorschnell beiseite legen. Er enthält auch eine Reihe instruktiver Beiträge. Das beginnt mit den Bemerkungen von Johannes Bähr zu den "Ansätzen und Perspektiven" der neueren Unternehmensforschung und seiner Diskussion der Frage, inwieweit sich die neueren Konzepte der Unternehmensgeschichte sinnvoll auf die Geschichte der DDR-Betriebe anwenden lassen. Beiträge von Renate Hürtgen, Francesca Weil und Annegret Schüle diskutieren in unterschiedlicher Perspektive an verschiedenen Beispielen die Rolle der Frau in der DDR. Helmut Walser Smith thematisiert in einer innovativen quantifizierenden Untersuchung die Sozialstruktur sowie das widerständige Verhalten der Fremdarbeiter eines Betriebsteiles der Bitterfelder IG Farbenwerke in den Jahren 1940 bis 1945 und verändert dabei eingeschliffene Perspektiven: Er begnügt sich nicht mit nationalen Zugehörigkeiten, sondern macht darüber hinaus u. a. die Größe des Heimatortes zur Variable. Smith nimmt damit insbesondere die Frage nach eher agrarischer oder städtisch-industrieller Sozialisation in den Blick. So kann er feststellen, dass die Verankerung in ländlichen Heimatkulturen die Bereitschaft zur Nonkonformität deutlich erhöhte. Stärker als die meist einem städtischen Umfeld entstammenden und oft in der klassischen Arbeiterbewegung sozialisierten französischen oder italienischen Arbeitskräfte neigten kroatische und slowakische Arbeiter, die aus überwiegend ländlichen Regionen kamen, zu Fluktuation und Flucht.
Herausragend sind schließlich die Beiträge von Dietmar Süß und Helke Stadtland. Der Beitrag von Süß ist nicht nur wegen seiner erfrischenden Sprache mit Genuss zu lesen; er ist auch konzeptionell innovativ. So führt Süß vier verhaltens- und mentalitätsprägende "Gerechtigkeitsdimensionen" ein (Tausch-, Verfahrens-, Interaktions- und Verteilungsgerechtigkeit) und weist auf das soziologische, freilich für Marktwirtschaften entwickelte Konzept der "micropolitics" mit ihren Ansätzen hin, die auch einzelbetrieblich die zwischen den Polen Macht und Freiheit, Kontrolle und Konsens oszillierenden Handlungen und Einstellungen innerhalb der Belegschaften 'fassbarer' machen können. Helke Stadtland wiederum skizziert in ihrem Beitrag zu den Konzeptualisierungen "Geschlecht" und "Generation" u. a., dass "Mann" und "Frau" wie alle anderen Achsen gesellschaftlicher Differenz "Relationsbegriffe" sind, mithin eine "Geschlechtergeschichte" - nicht nur Frauengeschichte - zu schreiben ist. Ähnlich wie Hürtgen, Weil und Christ konstatiert sie eine im Vergleich zur alten Bundesrepublik partiell unabhängigere Stellung der Frauen in der DDR - und warnt zugleich davor, deren Stellung und Selbstgefühl mit der Elle des westlichen Feminismus zu messen. Kritisch ist sie auch gegenüber dem Generationenmodell. Dies habe in der DDR-Historiografie deshalb Konjunktur, weil andere, übliche Differenzierungselemente sich auf die ostdeutsche Gesellschaft nach 1945 nur mit großem konzeptionellen Aufwand übertragen lassen; sicherlich zu Recht warnt Stadtland vor dem "Fallstrick, automatisch von Generationenkonflikten auszugehen".
In die beiden anderen Bände wird man durch konzise, problemorientierte Beiträge der Herausgeber bzw. Sektionsleiter eingeführt. Der von Peter Hübner, Christoph Kleßmann und Klaus Tenfelde herausgegebene Aufsatzband über die Arbeiter in den untergegangenen staatssozialistischen Staaten ist - wie schon die älteren Bände dieses Herausgeber-Trios - ein "Muss" (mindestens) für Historiker, die zur DDR forschen. Er ist dies auch, weil ähnlich wie in dem dritten hier zu besprechenden Sammelband, verglichen wird, d. h. durch einen Vergleich der kommandowirtschaftlich organisierten Gesellschaften miteinander auch deren Spezifika schärfer herausgearbeitet werden. Peter Hübner verweist in seinem Einleitungsbeitrag auf die in der Aufklärung wurzelnde westliche Denktradition des "Arbeiterstaates" und markiert zugleich Besonderheiten der sowjetischen Entwicklung, wenn er die Wurzeln des sowjetischen Gesellschaftsmodells in der Kriegswirtschaft, und zwar nicht zuletzt in der deutschen Kriegswirtschaft (als dem Vorbild namentlich Lenins) betont. Diese Fesseln konnte die UdSSR letztlich zu keinem Zeitpunkt abstreifen. Sie waren trotz eines anderen Selbstverständnisses "in der Praxis nicht Übergangsform", sondern "verfestigten sich" und wurden schon bald "zum Herrschaftsinstrument einer kleinen Machtelite". Lenka Kalinová skizziert in ihrem Beitrag über die ČSSR die aus der sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen wie kulturellen Entwicklung resultierenden Differenzen zwischen dem tschechischen und slowakischen Landesteil und hebt das Misstrauen der Arbeiterschaft gegenüber der "Intelligenz" einschließlich der Reformer des Prager Frühlings hervor. Obgleich nominell führende Klasse, blieb die Arbeiterschaft auch unter dem Husak-Regime kein bedeutendes Rekrutierungsreservoir für die politische Elite. Dies lag, so lässt sich aus dem Beitrag von Kalinová schließen, freilich u. a. auch daran, dass die Arbeiterklasse im Realsozialismus, jedenfalls an den Rändern, ein paradoxes, politisch-soziales Konstrukt war: Bei politischer Renitenz konnte man in sie auch 'strafversetzt' werden. Hinzu kommen die sozialstrukturellen Veränderungen moderner Industriegesellschaften, die auch die Realsozialismen nicht unberührt ließen. Der Formel von der "führenden Arbeiterklasse", so resümiert Peter Hübner die 'Beiträge' seiner Sektion, habe letztlich ein "dramatisches Mißverständnis" zu Grunde gelegen: Die zumeist vor dem Weltkrieg sozialisierten führenden Funktionäre waren einem traditionellen proletarischen Milieu verhaftet. Sie mussten hilflos registrieren, dass die klassische Industriegesellschaft auch in den osteuropäischen Staaten bröckelte und mit ihr die zentralen sozialen Verankerungen des Kommandosozialismus schwanden.
Die Lektüre der Beiträge zur Sektion "Arbeiterstaat" bietet noch weitere Aufschlüsse: Eine interessante These Ivo Georgievs lautet, dass das realsozialistische System Bulgariens nach 1945 deshalb relativ reibungslos implementiert werden konnte, weil es an den korporatistisch geprägten, nach dem italienischen Vorbild gestalteten bulgarischen Faschismus seit Mitte der Dreißigerjahre anknüpfen konnte. In diesem wie auch in den Beiträgen über Rumänien (Dragos Petruscu bzw. Jòzsef Ö. Kovács) und Ungarn (Anikó Eszter Bartha) werden zudem die spezifischen Strukturen und kulturellen Traditionen der überwiegend aus dem Agrarbereich rekrutierten "neuen Industriearbeiterschaft" ("Arbeiter-Bauern") hervorgehoben. Weitere Beiträge sind dem komplexen Feld der realsozialistischen Kultur gewidmet, den zunehmend "verknöcherten" Fest- und Veranstaltungsritualen der politischen Eliten (Rainer Gries), die unfreiwillig auf die Vergreisung dieser Eliten spiegelten, oder der realsozialistischen Petitionskultur und dem dahinter stehenden paternalistischen Verständnis von "Volk" und Herrschaftselite (Dietrich Beyrau). Den Beitrag von Simone Barck und Dietrich Mühlberg wiederum kann man als mindestens partielle Rehabilitation der engagierten, gesellschaftlich eingreifenden Kunst der DDR lesen.
Im einleitenden Beitrag zur Sektion "Arbeitsbeziehungen und Arbeiterexistenzen" betont Jennifer Schevardo, dass das ältere, totalitarismustheoretisch aufgeladene dichotomische Bild von Herrschenden und Beherrschten obsolet geworden und komplexeren Vorstellungen der Wechselwirkung und gegenseitigen Durchdringung beider Sphären gewichen ist. Die anschließenden Aufsätze legen hiervon teilweise eindrucksvoll Zeugnis ab. In seinem ländervergleichenden Beitrag kann André Steiner nachweisen, dass die Einkommen vor allem in den realsozialistischen Staaten, die zu einer nachholenden Industrialisierung gezwungen waren und auch späterhin ein geringes Produktivitätsniveau aufwiesen, besonders ungleich verteilt waren. Malgorzata Mazurek zeigt am Beispiel Polen u. a., dass das "funktionale" Oben und Unten stark mit der Geschlechterdifferenz korrelierte. Thema letztlich aller Beiträge ist die latente ökonomische und sozialpolitische Erpressbarkeit der Herrschaftseliten, die u. a. aufgrund des postulierten Führungsanspruchs der Arbeiterklasse, des Versprechens der Vollbeschäftigung eine hohe Produktivität nicht mit flächendeckender Repression erzwingen konnte - so dass die Implosion des Realsozialismus sowjetischen Typs letzten Endes unausweichlich war. Die Beiträge der letzten Sektion schließlich widmen sich der subtilen Repression, einer immer umfassenderen, gleichwohl vergeblichen Kontrolle und ebenfalls dem machtkonservativen Sozialpaternalismus der realsozialistischen Herrschaftseliten.
Auf ähnlich hohem Niveau bewegt sich auch der von Christiane Brenner und Peter Heumos herausgegebene Band. Allein die Lektüre des einführenden, ausgesprochen dichten Aufsatzes von Christoph Boyer ist inhaltlich und sprachlich ein Genuss. Manche seiner Sentenzen muten trivial an, sind es jedoch nicht, z. B. seine Feststellungen: "Sozialgeschichte erdet Befindlichkeiten und Mentalitäten"; "Staatssozialismus ist holistischer Sozialkonstruktuvismus in eudämonischer Absicht"; "die im Parforceritt nachgeholte ursprüngliche Akkumulation" in den meisten osteuropäischen Staaten seit 1945 schaffte "ungeahnt gesteigerte vertikale und horizontale Mobilität" und "weite Räume von Lebenschancen", aber auch hochgradige "mentale und emotionale Verunsicherung" sowie "fragile und labile Identitäten". "Staatssozialismen sind keine monolithischen, säuberlich hierarchisch gegliederten, geschmiert dahinschnurrenden Apparate, eher ein regelloses In-, Mit- und Gegeneinander multipler Instanzen und Akteure"; "die Partei-Logik zunächst des Machterwerbs, dann des Machterhalts überwucherte alle Lebenssphären." Oder: "Nicht Widerstand, sondern die Widerständigkeit alter Sozialkörper und -beziehungen, sozusagen ihre physische Trägheit, setzt Grenzen der Beherrschbarkeit und limitiert Eingriffstiefen." Wichtig auch Boyers Feststellung, dass der "Oktroi der [sowjetischen] Hegemonialmacht" sich "nicht in elaborierten 'mitgebrachten' Detailkonzepten" äußerte, der Pragmatismus vielmehr groß, die "Züge gestaltender Sowjetisierung" dagegen "erstaunlich schwach" gewesen seien.
Der Band enthält Beiträge zu einem sehr weit gesteckten Themenspektrum, das sich schwer in überwölbende Thesen zusammenfassen lässt. Um Appetit auf die Lektüre zu machen, seien hier stellvertretend interessante Ergebnisse zweier Aufsätze vorgestellt: In ihrem die Sektion "Kommunismus und Kultur" einleitenden Beitrag fordert Helke Stadtland, auf "systemfremde Definitionen von Kultur und Kulturpolitik" zu verzichten und stattdessen "Forschungsprobleme direkt aus der Logik der untersuchten Systeme zu extrahieren". "Kultur" war überdies kein autonomer Sektor, sondern namentlich über die Gewerkschaften untrennbar mit der Gesamtgesellschaft verknüpft, gleichzeitig jedoch in zahlreiche "Subkulturen" aufgefächert. Zu berücksichtigen seien, so Stadtland, zudem die spezifischen Traditionen der organisierten Arbeiterbewegung, auf die die staatssozialistischen Eliten rekurrierten, nicht zuletzt deren 'missionarischer' Charakter. Weit vor 1945, teilweise bereits im 19. Jahrhundert, habe sich z. B. ein Misstrauen der linken organisierten Arbeiterbewegung gegen die tatsächlich an den Tag gelegten "Bedürfnisse der Arbeiter" und die Verachtung "kleinbürgerlicher Spießerträume" der eigenen sozialen Klientel ausgebildet. Die NS-Herrschaft bzw. deren Besatzerregime hätten die Vorstellung, die Arbeiterklasse erst noch erziehen zu müssen, auf Seiten der seit 1945 in die politischen Schaltstellen gelangten kommunistischen und wohl auch sozialdemokratischen Arbeiterbewegung noch verstärkt. Wichtig schließlich Stadtlands Plädoyer, Bourdieus Konzept der "feinen Unterschiede" auch für die Sozialanalyse des Realsozialismus fruchtbar zu machen, ein Votum, das aufgrund der anderen osteuropäischen Sozialstrukturen freilich erhebliche theoretische Anstrengungen voraussetzt.
Aus den weiteren knapp zwanzig spannenden Beiträgen sei außerdem noch auf den Aufsatz von Michaele Marek über "Die Idealstadt im Realsozialismus" hingewiesen. Interessant ist dieser Beitrag, weil er die weit zurückreichende Vorgeschichte der realsozialistischen Modellstädte thematisiert, z. B. auf Tommaso Campanellas inzwischen ein halbes Jahrtausend alte "Città del sole", Robert Owens "New Harmony", El Lissitzkys "Wolkenbügel", Corbusiers "Ville contemporaine" oder Bruno Tauts "Stadtkrone" eingeht. All diesen "sozialutopischen Gedankenspielen" lag die Absicht zu Grunde, so ihre überzeugende These, durch "Disposition und Form der Stadt auf die Gesinnung ihrer Bewohner einzuwirken". Und umgekehrt zielte "jede Vision von einer erneuerten Gesellschaft auch auf die mehr oder weniger radikale Neuordnung von deren Lebensumfeld". Die eher (weil rationalisierungs-geprägten) standardisiert-monotonen Modellstädte mit den heute zum Schreckbild gewordenen Plattenbauten eines politisch zudem rasch erschlafften Realsozialismus bilden hier nur einen, freilich dann auch in größeren Dimensionen realisierten Seitenzweig.
Drei Aufsatzbände, die vielfältige Einblicke in die Geschichte des europäischen Realsozialismus bieten und teilweise hochgradig anregend sind. Auf den ersten Blick scheinen sie ein bleibend großes Interesse der Historiografie namentlich an der SBZ/DDR-Geschichte zu signalisieren. Tatsächlich täuscht dieser Eindruck jedoch: Mehrere Autoren haben für zwei oder gar alle drei Bände Beiträge verfasst. Das ist kein Mangel, zumal die Autoren nicht "wiederkäuen". Er verweist jedoch darauf, wie dünn die personelle Decke an Historikern ist, die zur DDR-Geschichte forschen. Das ist schade. Denn die Forschung der letzten Jahre hat sich ganz offensichtlich von den anfangs recht primitiv angelegten Fragestellungen und Vergleichsrastern wegbewegt und - wie vor allem die beiden letztgenannten Bände eindrucksvoll zeigen - anspruchsvolle und differenzierte Konzepte entwickelt. Was die Zukunft der "Arbeitergeschichte", gleichgültig ob für die NS-Zeit oder die Jahrzehnte des Realsozialismus, anbetrifft, bin ich im übrigen optimistisch: Die Historikerzunft ist ein großer, schwer beweglicher Tanker, der auf gesellschaftliche Veränderungen nur sehr allmählich reagiert. Wir leben in einer Zeit fundamentaler Veränderungen - und einer wachsenden sozialen Polarisierung, die die scheinbar alte "Klassenfrage" in neuem Kontext und mit zweifelsohne auch gänzlich anderen Perspektiven wieder aktuell werden lässt. Um künftige Konjunkturen der "Arbeitergeschichte" ist mir deshalb nicht bange.
Rüdiger Hachtmann