Andreas Biefang / Michael Epkenhans / Klaus Tenfelde (Hgg.): Das politische Zeremoniell im Deutschen Kaiserreich 1871-1918 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 153), Düsseldorf: Droste 2008, 515 S., ISBN 978-3-7700-5291-2, EUR 42,00
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Das politische Zeremoniell der Bundesrepublik Deutschland ist im Vergleich zu dem der DDR, des Deutschen Reiches aber auch der meisten gegenwärtigen Nachbarstaaten bemerkenswert wenig entwickelt. Dies gilt auch und vor allem für das Parlament: "[...] da wird man schwerlich in Deutschland - und schon gar nicht im Ausland - ein staatliches Organ finden, das bescheidener, unauffälliger [...] agiert als der Deutsche Bundestag. Zeremonieller Pomp im Parlament? Glatte Fehlanzeige. Wer den liebt, muss schon nach Frankreich oder England gehen." (469) So in dem vorliegenden Sammelband, der die Ergebnisse einer gemeinsamen Konferenz der Universität Bochum und der Otto-von-Bismarck-Stiftung (Friedrichsruh) aus dem Jahr 2006 dokumentiert, Bundestagspräsident Norbert Lammert, der als Bochumer Bundestagsabgeordneter, promovierter Politikwissenschaftler und Honorarprofessor der Ruhr-Universität in einem öffentlichen Abendvortrag gleichsam den Bogen schlug zwischen dem historischen Tagungsthema und der politischen Gegenwart der 'Berliner Republik'.
Lammert arbeitet in seinem gelungenen Essay "Die Würde der Demokratie. Das parlamentarische Zeremoniell des Deutschen Bundestages" vor allem heraus, dass die oft beschriebene und auch bisweilen kritisierte Nüchternheit, ja Kargheit des bundesdeutschen parlamentarischen Zeremoniells Ausdruck eines veränderten Selbstverständnisses des deutschen Parlaments ist, mit dem sich dieses, vor dem Hintergrund einer völlig anderen Geschichte als die Volksvertretungen etwa Großbritanniens oder Frankreichs, demonstrativ abgrenzen will von der Symbolik älterer historischer Epochen. Dass Lammert in diesem Zusammenhang immer wieder den pejorativ besetzten Begriff "Pomp" bemüht, ist ein deutlicher Beleg dafür, dass sich auch das wiedervereinigte Deutschland weiterhin vor allem über negative Abgrenzung zur historischen Vergangenheit definiert und damit noch stark den Prägungen der demonstrativ traditionslosen 'Bonner Republik' verhaftet ist. Im weitgehend ahistorischen Innenausbau des nur äußerlich kaiserzeitlichen Reichstagsgebäudes hat dieses Selbstverständnis auch in Berlin seinen architektonischen Ausdruck gefunden. In dieser Zurückhaltung, ja Scheu vor der eigenen Geschichte wirkt offenbar immer noch die Tatsache nach, dass das politische Zeremoniell ursprünglich Ausdrucksform monarchischer Repräsentation war, welches seit dem späten 18. Jahrhundert zunehmend Konkurrenz erhielt durch die modernen Volksvertretungen und von ihnen in den westlichen Demokratien geradezu absorbiert wurde. In Deutschland geschah dies als Folge der vergleichsweise verspäteten Demokratisierung nur unvollkommen bzw. gar nicht.
Dass die Tradition der Abgrenzung von einer weitgehend als traditionsunwürdig eingeschätzten Vergangenheit dennoch zumindest teilweise auf Voreingenommenheit beruht, zeigt im vorliegenden Band beispielsweise der ausgezeichnete Beitrag von Josef Matzerath (Dresden) "Parlamentseröffnungen im Reich und in den Bundesstaaten". Seine Interpretation der Reichstagseröffnung von 1888, die gleichzeitig die nicht vorgesehene Kaiserkrönung Wilhelms II. substituieren musste und von Anton von Werner in einem bekannten Monumentalgemälde festgehalten wurde, beweist, dass der Reichstag hier keineswegs nur Staffage war, sondern vielmehr eine zentrale Rolle erfüllte, die über eine reine Akklamationsfunktion hinauswies: "Als Wilhelm II. seinen Regierungsantritt öffentlich inszenierte, wählte er den Reichstag als Forum und er nutzte die höfische Inszenierung einer Parlamentseröffnung auch, um sich mittels eines Großgemäldes als anerkannter Monarch zu präsentieren. Zugleich mit den Ansprüchen des Hohenzollern verwies die Reichstagseröffnung v. Werners aber auch auf das Parlament als Legitimationsinstanz des Monarchen." (232) Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Andreas Biefang (Berlin) im Hinblick auf die Reichstagswahlen: "Die öffentliche Repräsentation der 'Volkssouveränität' durch die Reichstagswahlen stellte eine ernsthafte Konkurrenz zum 'imperialen Zeremoniell' und seinem Gestaltungsanspruch dar [...]." (251) Einen ähnlichen ernst zu nehmenden symbolpolitischen Konkurrenzanspruch erhoben auch die Parteitage der deutschen Sozialdemokratie und die jährlich stattfindenden Katholikentage, die Walter Mühlhausen (Heidelberg) bzw. Marie-Emmanuelle Reytier (Mainz) untersuchen. Demgegenüber gelang es dem Reichstag bis 1918 nicht, ein gleichsam parlamentarisches Trauerzeremoniell in Konkurrenz zum monarchischen Bestattungszeremoniell zu entwickeln. Dies lag nicht zuletzt daran, dass, wie Ursula Reuter (Düsseldorf) zeigt, die Bestattung von Parlamentariern vorrangig partikulare Parteiveranstaltungen waren, die eine nationale Wirkung nur bedingt entfalten konnten.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, alle Beiträge dieses Sammelbandes auch nur ansatzweise angemessen zu besprechen. Andeutungen müssen deshalb im Folgenden genügen. Neben dem eben beschriebenen "schwachen Souverän" Parlament und seinen Parteien (Teil 2) widmet sich der erste Teil dem imperialen Zeremoniell, welches nach 1871 stets in Konkurrenz stand zu älteren partikularen, auch preußischen und konfessionellen Traditionen und deshalb umstritten blieb. Wilhelm I. unternahm deshalb in dieser Richtung kaum Anstrengungen, erst sein Enkel Wilhelm II. betätigte sich, durchaus mit einigem Erfolg, als Traditionsstifter. Martin Kohlrausch (Warschau) behandelt das wilhelminische Hofzeremoniell, Frank Bösch (Gießen) die Kaisergeburtstage, Claudia Lepp (München) die kirchlich-protestantischen Prägungen der Hohenzollernmonarchie, Katherine Lerman (London) die Hofjagden, Alexa Geisthövel (Bielefeld) das Bestattungszeremoniell, Ute Schneider (Essen-Duisburg) den Sedantag und die Erinnerung an die Befreiungskriege sowie schließlich Michael Epkenhans (Potsdam) die Stapelläufe von Kriegsschiffen. Der dritte Teil des Sammelbandes ist "anderen" Zeremoniellen gewidmet, die man im weitesten Sinne als oppositionell zur imperialen Selbstdarstellung bezeichnen kann bzw. die, ähnlich wie die parlamentarischen und parteipolitischen, mit diesem mehr oder weniger deutlich konkurrierten: So behandelt Simone Mergen (Bonn) die Inszenierung der konstitutionellen Monarchie in den Bundesstaaten, Barbara Stambolis (Paderborn) die Schützenfeste, Christian Jansen (Berlin), Manfred Hettling (Halle) und Constantin Goschler (Bochum) das Gedenken an die "1848er", Andreas von Seggern (Friedrichsruh) beschäftigt sich mit dem Bismarck-Kult und Inge Marszolek (Bremen) mit den Maifeiern. Der vierte Teil weist über den historisch-politischen Rahmen der Tagung hinaus: So vergleicht Christoph Cornelißen (Kiel) die Verhältnisse im Kaiserreich mit Italien, Frankreich und Großbritannien und betont hierbei die aus den unterschiedlichen politischen Verfassungen resultierenden "gravierenden Unterschiede"; insofern widerspricht Cornelißen Forschungstendenzen, die in völliger Abkehr vom Paradigma des deutschen Sonderweges die gemeineuropäische Normalität der deutschen Entwicklung betonen. Wolfram Pyta (Stuttgart) behandelt schließlich den Wandel des politischen Zeremoniells nach 1918, konkret das aus dem Fehlen eines gemeinsamen liberaldemokratischen Grundkonsenses resultierende Scheitern der Versuche der Träger der Weimarer Republik, die monarchische Staatsrepräsentation durch eine republikanische zu ersetzen. Auf diesen Fehlschlag bezieht sich auch Lammert in seinem oben bereits erwähnten abschließenden Essay.
Es gibt Tagungsbände, bei denen dem Leser angesichts allzu offensichtlicher "Buchbindersynthesen" oder wenig innovativer Beiträge bzw. Themenstellungen der Gedanke kommt, ob es dieser Veröffentlichung wirklich bedurft hätte. Bei dem vorliegenden, übrigens mit vielen (teilweise sogar farbigen) Bildern versehenen Werk stellt sich diese ketzerische Frage erst gar nicht. Es vermittelt wichtige neue Einsichten zur Verfassungs- und Kulturgeschichte des Deutschen Kaiserreichs und beweist überdies, dass eine moderne Kulturgeschichte nicht notwendigerweise ideologisch daherkommen muss.
Matthias Stickler