Jonathan Harwood: Technology's Dilemma. Agricultural Colleges between Science and Practice in Germany, 1860-1934, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2005, 288 S., ISBN 978-3-03910-299-0, EUR 44,30
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Jonathan Harwood untersucht in seiner Monografie die Strategien, mit denen sich landwirtschaftliche Akademien und Hochschulinstitute im 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihrem akademischen und politisch-ökonomischen Umfeld positionierten. Ziel ist es, die Dynamik zu erklären, auf Grund derer sich in Deutschland in diesem Zeitraum eher "wissenschaftsorientierte" und eher "praxisorientierte" Institutionen herausbildeten. Erstere werden primär dahingehend definiert, dass ihre Vertreter Probleme der agrarischen Praxis mithilfe naturwissenschaftlicher Theorien zu lösen versucht hätten. In "praxisorientierten" Institutionen sei hingegen der Rekurs auf Grundlagenwissenschaften nur zum Teil oder gar nicht erfolgt, gleichzeitig hätten wirtschaftliche Rahmenbedingungen der Agrarproduzenten stärkere Beachtung gefunden. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Umständen, unter denen sich die "praxisorientierten" Institutionen um die Jahrhundertwende gezwungen sahen, verstärkt eine "wissenschaftsorientierte" Richtung einzuschlagen, die spätestens nach dem Ersten Weltkrieg zum dominierenden Ausbildungsmodell aufstieg.
"Wissenschaftsorientierung" und "Praxisorientierung" interessieren Harwood als Kategorien, die das Handeln der historischen Akteure steuerten. Den Status von Denkmodellen und Praktiken der höheren agrarischen Ausbildung als Teil einer langfristigen Geschichte der Genese technischer Wissenschaften zu definieren, ist nicht sein Ziel, in die aktuellen Debatten um Konzepte der "Technoscience" hat er seine Untersuchung erst im Nachhinein eingeordnet. [1] Die Studie steht somit primär in der Tradition von Analysen der höheren (ingenieur-)technischen Ausbildung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Auch das titelgebende "Technology's Dilemma" bezieht sich dementsprechend auf das Ringen um die Ausrichtung solcher Institutionen, nicht etwa auf die Konsequenzen der Interaktion universitärer, administrativer, industrieller und bäuerlicher Wissensformen in einer zunehmend technisierten Agrarpraxis.
Harwood gibt zunächst einen Überblick über das geografische, akademische und politisch-ökonomische Umfeld der deutschen landwirtschaftlichen Akademien und Hochschulinstitute des Untersuchungszeitraums. Das folgende Kapitel verdeutlicht generelle Tendenzen, in deren Rahmen sich diese Institutionen zwischen 1800 und 1934 immer wieder zwischen "Wissenschafts-" und "Praxisnähe" zu verorten suchten. Dieses Thema wird dann noch einmal anhand von fünf Ausbildungsinstitutionen herausgearbeitet, die sich speziell im Zeitraum zwischen 1890 und 1914 vergleichsweise eindeutig in die eine oder andere Richtung definierten: Berlin und Halle eher "wissenschaftsorientiert", Hohenheim, Bonn und Breslau eher "praxisorientiert". Schließlich wird die historische Dynamik dieser Entwicklung mittels der beiden bayerischen Institutionen in München und Weihenstephan zwischen 1872 und 1934 in den Blick genommen.
Diese sieben Fallstudien beleuchten die jeweilige Ausrichtung einer Institution im Spiegel der Lehrpläne, der Ausstattung mit Versuchsfeldern und Laboratorien, der Beziehungen zur lokalen Agrarwirtschaft sowie der verfolgten Forschungsaktivitäten. Besondere Aufmerksamkeit gilt zudem der Konkurrenz der Ausbildungsinstitutionen untereinander sowie deren Verhältnis zu den verantwortlichen Ministerien und den agrarischen Interessenvertretungen vor Ort. Diese Bezüge werden an vielen Beispielen und unter Bezugnahme auf Biografien einzelner Akteure plastisch dargestellt. Interessant ist dabei der Hinweis, dass die "Verwissenschaftlichung" der Hochschulausbildung insbesondere den Interessen von Großgrundbesitzern und der Nahrungsmittelindustrie entgegenkam und mit deren zunehmenden Einfluss korrelierte. Die "praxisorientierten" Institutionen hätten hingegen eher Wissen vermittelt, das für klein- und mittelbäuerliche Betriebe nutzbar war. Eine intensivere Untersuchung dieses Zusammenhangs steht jedoch außerhalb der Zielsetzung der Arbeit.
Die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie sieht Harwood in der Identifizierung derjenigen Faktoren, die für die "Wissenschafts-" oder "Praxisorientierung" der untersuchten Institutionen ausschlaggebend waren. Als irrelevant dafür habe sich sowohl erwiesen, ob die Institution dem Landwirtschafts- oder dem Bildungsministerium unterstellt war, als auch in welchem Territorium sie angesiedelt war - Bayern wie Preußen verfügten beispielsweise über Institutionen beider Ausrichtungen. "Wissenschafts-" oder "Praxisnähe" sei weder mit der Verfassung der Institution als universitäres Institut oder als Landwirtschaftsakademie gleichzusetzen noch habe die Herkunft der Studentenschaft aus städtischen oder ländlichen Räumen eine Rolle gespielt. Entscheidend sei vielmehr gewesen, ob das im Untersuchungszeitraum durchgängig erkennbare Streben des Lehrpersonals nach höherem Ansehen seiner Institution mittels verstärkter Verwissenschaftlichung durch die zuständigen Ministerien und agrarische Interessengruppen gefördert bzw. eingedämmt worden sei. Auch der Standort der Hochschule habe eine gewisse Rolle gespielt, insofern sich städtische Institutionen als eher "wissenschaftsorientiert" erwiesen hätten. Harwood geht davon aus, dass das auf diese Weise herausgearbeitete Faktorenmodell zur Beschreibung solcher institutionellen Dynamiken auch über seinen eigenen Untersuchungsgegenstand hinaus anwendbar ist. Als mögliche Beispiele nennt er die historische Entwicklung der höheren agrarischen Ausbildung in anderen Ländern, die Genese weiterer praxisorientierter Disziplinen wie Ingenieur-, Medizin- und Wirtschaftswissenschaften und nicht zuletzt aktuelle Problemlagen entsprechender Studiengänge.
Eine gewisse Spannung ist Harwoods Arbeit durch seine leitende Fragestellung auferlegt. Die Genese der "wissenschafts-" bzw. "praxisorientierten" Ausrichtung einzelner Institutionen zum Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung zu machen, scheint angesichts der Vielfalt der in den Fallstudien diskutierten Aspekte trotz einer stringenten Argumentation nicht immer zwingend. Man mag sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Harwood ein verwandter Sachverhalt, dessen Aktualitätsbezug er auch im Schlusskapitel noch einmal dezidiert herausstreicht, viel mehr am Herzen liegt: Der Hinweis nämlich, wie die Ausrichtung an den Naturwissenschaften dort, wo sie in erster Linie aus Statusgründen verfolgt wird, gesellschaftlichen Anforderungen an eine innovationsorientierte technische Hochschulausbildung entgegen stehen kann. Zwar ist dieses Problem im Titel der Arbeit prominent angesprochen. Vielleicht wäre es aber auch eine Überlegung wert gewesen, eine Institutionen übergreifende Strukturierung der Quellenauswertung entlang dieser These vorzunehmen. Damit hätten nicht zuletzt gewisse Redundanzen in der Darstellung vermieden werden können.
Harwood untersucht mit den landwirtschaftlichen Akademien und Hochschulinstituten einen bislang unterbelichteten Gegenstand der Institutionengeschichte technischer Bildung. Eingängig ist sein Nachweis, welch umfangreiche Ressourcen das Hochschulpersonal in den Kampf um die Orientierung am Ideal der Grundlagenwissenschaften steckte, das das Selbstverständnis der Akteure ebenso prägte wie ihre individuellen Karrierestrategien. Einen produktiven Diskurs zwischen einander so fremden Disziplinen wie Wissenschaftstheorie bzw. Wissenssoziologie und Agrargeschichte zu eröffnen, ist mit einer solchen Fallstudie allein wohl kaum zu leisten. Harwood ist auf diesem Weg mit seinen präzisen und umfassenden Quellenstudien jedoch zweifellos erheblich weiter gegangen als andere wissenschaftssoziologische Arbeiten, in denen historisch argumentiert wird. Sein auf dieser Basis entwickeltes Modell institutioneller Dynamik kann zukünftigen Arbeiten zu verwandten Themen sicherlich neue Impulse geben.
Anmerkung:
[1] Jonathan Harwood: On the Genesis of Technoscience: A Case Study of German Agricultural Education, in: Perspectives on Science 13 (2005), 329-351.
Marcus Popplow