Rita Gudermann: Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliorationen in Westfalen und Brandenburg (1830-1880) (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 35), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2000, 577 S., ISBN 978-3-506-79607-3, EUR 51,60
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Was uns heute in Deutschland als "Natur" entgegentritt, ist in vielen Fällen Ergebnis einer relativ jungen Entwicklung. Sie ist Folge einer beispiellosen Umgestaltung der Agrarlandschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Innerhalb kurzer Zeit und vor allem weite Flächen abdeckend, wurden durch die Teilungen der Gemeinheiten, durch umfangreiche Ent-, Bewässerungs- sowie Urbarmachungsprojekte Jahrhunderte alte Wirtschaftsverhältnisse und Landschaftsstrukturen verändert oder beseitigt. In Überblicksdarstellungen wird diese Zeit der Agrarreformen meist immer noch als eine lineare Abfolge von Erfolgen beschrieben, die entscheidend zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion beitrug. [1]
In der Einleitung (1-18) ihrer von Wolfram Fischer und Heinz Reif betreuten Dissertation betont Rita Gudermann demgegenüber zu Recht, dass die überragende Bedeutung der als "Meliorationen" zusammengefassten Maßnahmen zwar immer erkannt, der Prozess selbst aber in seiner Vielschichtigkeit, seinen Dimensionen und Auswirkungen immer noch nicht adäquat untersucht wurde. Einen Beitrag hierzu soll ihre Arbeit leisten, welche die Meliorationen vergleichend in den preußischen Provinzen Westfalen und Brandenburg in einer Periode von fünfzig Jahren zwischen 1830 und 1880 analysiert und beschreibt.
Ausgangspunkt ist die Welle der Gemeinheitsteilungen, welche die bisher nur extensiv genutzten und nutzbaren Allmenden privaten Investitionen öffnete. Diese wurden besonders durch die steigenden Agrarpreise nach der Agrarkrise der 1820er-Jahre lukrativ. Den durch diese Investitionen ausgelösten Prozess sieht Gudermann in den 1880er-Jahren zu einem vorläufigen Abschluss gekommen.
Den methodischen Zugriff über den räumlichen Vergleich wählt Gudermann, um den komplexen Prozess in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen zu analysieren, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Konstanten und lokale Besonderheiten präziser fassen zu können. Ausgewählt wurden in beiden Provinzen zwei jeweils 2000 km² große Referenzgebiete, einerseits das Gebiet zwischen Oberer Lippe und Ems in Westfalen und andererseits das Havelland in Brandenburg (14). Beide Gebiete zeigten halbwegs vergleichbare naturräumliche Voraussetzungen, unterschiedlich waren aber die politischen Rahmenbedingungen. Während Brandenburg ein preußisches Kernland mit einer alten durchgehenden Verwaltungstradition darstellte, war die Provinz Westfalen viel stärker durch die vorhergehende territoriale Zersplitterung des Ancien Régime geprägt und erst ab 1815 als neu formierte Provinz mit preußischen Verwaltungs- und Rechtsstrukturen konfrontiert. So ergeben sich Unterschiede, die den Vergleich sinnvoll erscheinen lassen.
Die Quellenbasis für die Untersuchung ist sehr breit angelegt. Und so besteht das Problem auch nicht im Mangel, sondern eher in der übergroßen Fülle an gedruckten wie ungedruckten Quellen. Zurecht weist Gudermann auf die Bedeutung der gedruckten Gutachten und technischen Literatur hin, die gleichsam die Vorstellungen über den Weg zeigen, den der Fortschritt beschreiten sollte (15). Ausführlich diskutiert sie die Quellenproblematik, die sich aus der herrschaftlichen, städtischen Perspektive vieler Quellen ergibt, die nicht immer die immanenten Logiken ländlicher Gesellschaften abbilden. Leider nur am Rande und nur zu illustrativen Zwecken wurde die historische Kartenüberlieferung berücksichtigt, obwohl gerade die Fortschritte in Vermessung und Kartografie ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überhaupt erst die flächendeckende Erschließung natürlicher Ressourcen und die schnelle Umsetzung von Meliorationsprojekten ermöglichten. Die Rolle der Kartografie bei diesen Vorhaben ist noch zu wenig untersucht. [2]
In fünf großen Kapiteln wird das Thema daran anschließend aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven dargestellt. Das erste Kapitel ist den naturräumlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Voraussetzungen in beiden Untersuchungsgebieten vor dem Einsetzen der Meliorationen gewidmet. Wie ein roter Faden zieht sich hier und auch in den folgenden Kapiteln die besondere Bedeutung der Steuerung des Wasserangebotes durch. Entlang des von Rainer Beck in die deutschsprachige Forschung eingeführten Begriffes der "Naturalen Ökonomie" gelingt es Gudermann, die sehr komplexen Nutzungsbedingungen vorindustrieller bäuerlicher Wirtschaft in beiden Untersuchungsgebieten vorzuführen. [3] Im Kontrast dazu und gewissermaßen als Scharniergelenk zum später dargestellten Meliorationsprozess fungiert das folgende Kapitel, das unter dem von Friedrich Aereboe entlehnten Titel "Die Melioration der Köpfe - Landschaft und Landeskulturmaßnahmen in der öffentlichen Diskussion" die Etablierung des Themas im öffentlichen Diskurs verfolgt (111-181). Eine Vielzahl von Sozialreformern, Ökonomen, Technikern und Verwaltungsbeamten beschäftigten sich in heute nur noch schwer nachvollziehbarer Intensität mit großen Projekten, aber auch mit einer Fülle von Detailfragen rund um die Rationalisierung, Ertragssteigerung und allgemeine "Verbesserung" landwirtschaftlicher Verhältnisse. Die vielfältigen Maßnahmen besonders zur Bodenverbesserung waren grundlegend für die Durchsetzung der rationellen Landwirtschaft. Wiesenbau, Röhrendrainage, innere Kolonisation, die Gründung von landwirtschaftlichen Schulen und Vereinen bis hin zur ästhetisch motivierten "Landesverschönerung" waren einige der wichtigen Felder, auf denen zum Teil heftige Diskussionen geführt wurden.
Aufbauend auf diese wichtige Funktion des öffentlichen Diskurses, der vorab und begleitend geführt wurde, stellt Gudermann im folgenden Kapitel dar, wie die Meliorationen zu einem grundlegenden, wenn nicht gar zentralen Politikfeld der entstehenden Territorialstaaten des Ancien Régime wurden. Gudermann diskutiert insbesondere die Rolle der großen Urbarmachungen unter Friedrich II., auch unter dem Aspekt ihrer großen publizistischen Bedeutung für die weitere Entwicklung von Landeskulturkonzepten. Im Vergleich dazu litten die ersten Meliorationsprojekte im Münsterland unter der dort noch herrschenden territorialen Gemengelage.
Gudermann arbeitet für die Durchsetzung großflächiger Meliorationen ein dreiphasiges Ablaufmodell heraus. Demnach wurden in einer ersten Phase bis 1830 mit den Agrarreformen, besonders durch die Gemeinheitsteilungen, die Grundlagen für den Übergang zu einer kapitalistischen Landwirtschaft gelegt, deren Ziele in einer zweiten Phase durchgesetzt wurden, indem ein "Anreizsystem" von Vereinen, Ackerbauschulen, Musterwirtschaften und Prämien etabliert wurde. In einer dritten Phase setzten schließlich die großen staatlich geplanten und gelenkten Landesmeliorationen ein, die auf umfangreicheren finanziellen Mitteln und neuen gesetzlichen Grundlagen aufbauen konnten (277).
Nachdem sie so den Rahmen für die Entwicklung des Meliorationsprozesses weit gespannt und facettenreich geschildert hat, versucht Gudermann im fünften Kapitel eine vergleichende "Phänomenologie" staatlicher Meliorationsmaßnahmen vor Ort im östlichen Münsterland und im brandenburgischen Havelland. Anhand der umfangreichen, in den Archiven erhaltenen Projektions- und Planungsunterlagen gelingt es Gudermann, auch im Detail den Verlauf der Projekte und besonders ihre ökologischen Auswirkungen darzustellen. Dazu gehörte eine durchgreifende Veränderung der regionalen Hydrologie durch Be- und Entwässerungsmaßnahmen ebenso wie ein Verschwinden ehemals extensiv genutzter Landschaften, wie der Heiden.
In den abschließenden Kapiteln (379-490) analysiert Gudermann zusammenfassend Funktionen und Auswirkungen der Meliorationen im Rahmen des entstehenden Agrarkapitalismus. Ausgangspunkt ist die auch von der neueren Agrargeschichtsforschung gestützte Feststellung, dass die landwirtschaftliche Produktion bereits vor der großflächigen Durchsetzung der rationellen Landwirtschaft angestiegen war. Neben den Meliorationen waren das Bevölkerungswachstum und die Entstehung eines "inneren" und "äußeren" Marktes für landwirtschaftliche Produkte entscheidend für den säkularen Übergang von der naturalen zur kapitalistischen Ökonomie. So liegt die Bedeutung großflächiger Meliorationen bis heute nicht vorrangig in den mit ihnen verbundenen Ertragssteigerungen, sondern in ökologischen Strukturveränderungen. Diese Veränderungen geraten heute unter anderen Vorzeichen in den Blickpunkt von Agrarpolitik und Naturschutz.
Der Verdienst von Gudermanns Arbeit liegt insbesondere darin, die Durchsetzung der rationellen Landwirtschaft nicht als lineare Erfolgsgeschichte, sondern als vielschichtigen Prozess zu schildern, dessen Wirkungen und Nebenwirkungen von einer Vielzahl von Faktoren abhängig war. Es ist zu hoffen, dass diese fundierte und aus den Quellen erarbeitete Studie durch solche ergänzt wird, die andere Regionen Deutschlands und Europas abdecken. [4]
Anmerkungen:
[1] Hans-Günther Bohte: Landeskultur in Deutschland. Entwicklung, Ergebnisse und Aufgaben in mehr als 250 Jahren, Hamburg / Berlin 1976.
[2] Hierzu David Gugerli / Daniel Speich: Topografien der Nation. Politik, kartografische Ordnung und Landschaft im 19. Jahrhundert, Zürich 2002; neuerdings Daniel Schlögl: Der planvolle Staat. Raumerfassung und Reformen in Bayern 1750-1800, München 2002.
[3] Erstmals Rainer Beck: Naturale Ökonomie. Unterfinning: Bäuerliche Wirtschaft in einem oberbayerischen Dorf des frühen 18. Jahrhunderts, München 1986.
[4] So für einen früheren Zeitraum: Thorkild Kjærgaard: The Danish Revolution 1500-1800. An ecohistorical interpretation, Cambridge 1994, oder jetzt zu Süddeutschland Rainer Beck: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003.
Andreas Dix