Larry Eugene Jones / Wolfram Pyta (Hgg.): "Ich bin der letzte Preuße". Der politische Lebensweg des konservativen Politikers Kuno Graf von Westarp (1864-1945) (= Stuttgarter Historische Forschungen; Bd. 3), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, X + 221 S., 8 Abb., ISBN 978-3-412-26805-3, EUR 221,00
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Wolfram Pyta / Nils Havemann (Hgg.): Alfred Dregger. Zeitpolitiker der Wiedervereinigung und Anwalt des Parlamentarismus, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022
Kuno Graf Westarp gehörte von Beginn seiner politischen Laufbahn 1908, als er erstmals in den Reichstag gewählt wurde, bis zum Juli 1932, als er bei der Reichstagswahl nicht mehr kandidierte, zu den führenden Persönlichkeiten des preußisch-deutschen Konservativismus. 1913 übernahm er den Vorsitz der Reichstagsfraktion der Deutsch-Konservativen Partei, den er bis 1918 behielt; und nach einer kurzen Unterbrechung seiner politischen Tätigkeit infolge von Revolution und Kriegsende stieg er in der Deutschnationalen Volkspartei wiederum zum Fraktionsvorsitzenden im Reichstag (1924-29) sowie zum Parteivorsitzenden auf (1926-28). Erst als er seinem radikaleren innerparteilichen Konkurrenten Hugenberg im Kampf um den Parteivorsitz 1928 unterlag, die DNVP 1930 sogar verließ und sich an dem scheiternden Experiment der "Volkskonservativen" beteiligte, verlor er allmählich seinen beträchtlichen Einfluss. Nach seinem endgültigen Ausscheiden aus dem Reichstag zog Westarp sich konsequent aus der aktiven Politik zurück und beschränkte sich auf die publizistische und private Beobachtung der Politik.
Wenn man die hier versammelten biografischen Beiträge überblickt, die durchweg von ausgewiesenen Experten verfasst wurden, dann überrascht eigentlich nur das eigentümlich milde Licht, in das die historischen Wertungen getaucht sind. Dies mag ein wenig dem genius loci geschuldet sein, denn die Konferenz, auf die der Band zurückgeht, fand im Mai 2004 auf Schloss Gärtringen, dem Anwesen des Westarp-Enkels Hans Freiherr Hiller von Gaertringen statt, der offenbar die Tagung angeregt hatte und dessen Andenken - er verstarb einige Monate später - das Buch gewidmet ist. Wichtiger aber ist zweifellos, dass für die historische Bewertung von heute anscheinend die Stellung der damaligen Akteure zum Nationalsozialismus von ausschlaggebender Bedeutung geworden ist. Westarp indes konnte mit seiner restaurativ-reaktionären Einstellung nicht zu einem Anhänger der Nationalsozialisten werden, und er hat sich auch nicht, wie etwa Hugenberg, zu einem Steigbügelhalter Hitlers machen lassen. Dennoch lassen fast alle Autoren keinen Zweifel daran, dass Westarp ein Antisemit, sogar ein rassistischer Antisemit war, der allerdings die "Judenfrage" mit politischen und rechtsstaatlichen Mitteln lösen wollte, wobei offen bleibt, wie dies aussehen sollte. Jedoch hatte Westarp Gewalt gegen Juden schon in seiner Zeit als aktiver Politiker konsequent abgelehnt und wurde insofern in den Dreißiger- und Vierzigerjahren wirklich zu einem "Kritiker des Nationalsozialismus", wie Karl J. Mayer in seinem Beitrag nachweisen kann. Freilich führte dies kaum zu konkreten Konsequenzen, sondern vollzog sich "im stillen Kämmerlein seiner privaten Aufzeichnungen" (19) - so Stephan Malinowski mit einer gewissen ironischen Distanz.
Obgleich es zutrifft, dass Westarp sich mit dieser Ablehnung des Nationalsozialismus von der Einstellung der großen Mehrheit seiner Standesgenossen wohltuend abhob, ändert dies wenig an der in vielen Aspekten verhängnisvollen Wirkung der Politik der Konservativen, insbesondere im Ersten Weltkrieg. Wenn James Retallack in seinem Beitrag über die Korrespondenz zwischen Westarp und seinem Parteifreund Ernst von Heydebrand etwa schreibt, "dass die Konservativen in ihren eigenen Zweifronten-Krieg verstrickt waren: gegen Bethmann und gegen die Alldeutschen" (45), so überzeichnet er die Gegensätze ganz erheblich. Zwar gab es gewisse Unterschiede zwischen letzteren und den Konservativen in der Maßlosigkeit der Kriegsziele, doch in praktisch allen wesentlichen Punkten zogen sie an einem Strang; gleichgültig, ob es um innere Reformen ging, die den an allen Fronten blutenden Arbeitern politische Gleichberechtigung gewährt und damit die Vormachtstellung der Konservativen im preußischen Abgeordnetenhaus untergraben hätten, oder ob es sich um das illusionäre Beharren auf einem deutschen Sieg- und Annexionsfrieden handelte. Rafael Scheck billigt Westarp in seinem Beitrag über dessen Kriegsziele zumindest hinsichtlich seiner Skepsis gegenüber einem Verhandlungsfrieden einen gewissen außenpolitischen Realismus zu, aber selbst hier sind Fragezeichen angebracht. Denn eine wirklich realistische Einschätzung der alliierten Kriegsziele ist bei Westarp kaum zu erkennen, sonst wäre ihm nicht entgangen, dass nicht nur in Russland, sondern auch bei der Bevölkerung der Westalliierten Anfang 1917 eine spürbare Kriegsmüdigkeit herrschte. Gewiss, nach dem letztlich kriegsentscheidenden amerikanischen Kriegseintritt, der den Westalliierten half, ihre innere Krise zu überwinden, war es für einen Verständigungsfrieden wohl zu spät, die Friedensresolution des Reichstags vergeblich - aber dieser amerikanische Kriegseintritt war von deutscher Seite zu einem Zeitpunkt provoziert worden, als der amerikanische Präsident Wilson sich zu einer ernst gemeinten Vermittlungsinitiative entschlossen hatte. Und auf die verhängnisvolle Entscheidung zum uneingeschränkten U-Bootkrieg hatte Westarp als unbedingter Tirpitz-Anhänger im Reichstag und damit in der Öffentlichkeit lange hingewirkt.
Auch in der Rückschau hat Westarp sich nie zu seinen Fehlentscheidungen bekannt, im Gegenteil, erstaunlicherweise begann sein politischer Wiederaufstieg in der DNVP als außenpolitischer Experte, worauf Larry Eugene Jones in seinem Beitrag hinweist.
Auch sein konkretes Handeln, sein Kampf gegen Stresemanns Locarno-Politik, den Barry Jackisch beschreibt, deutet nicht gerade darauf hin, dass Westarp außenpolitisch dazugelernt hätte. Sicher ist es richtig, dass Westarp im Vergleich zu Hugenberg in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik, als er die DNVP in die Regierung führte, einen gewissen Pragmatismus und einige Kompromissbereitschaft an den Tag legte. Seine kontinuierliche Präferenz für eine autoritäre Regierungsweise mit monarchischer Spitze - dies letztere unterschied ihn von Hindenburg, wie Wolfram Pyta in einem anregenden Vergleich analysiert -, die Ablehnung der politischen Gleichberechtigung der Arbeiterklasse und der Frauen, wie Kirsten Heinsohn klar herausarbeitet, sowie sein (vergleichsweise gemäßigter) Antisemitismus lassen jedoch klar erkennen, wie weit Westarp stets von einem Tory-Konservativismus à la Burke, Peel oder Disraeli entfernt blieb. Das Preußen seiner Jugend, in dem unter der Herrschaft des Königs und Deutschen Kaisers eine Adelsklasse wirkte, zu der Westarp als Graf ohne Grundbesitz gar nicht ganz gehörte, mit der er sich aber vorbehaltlos identifizierte, blieb über alle politischen Umbrüche seine "rückwärtsgewandte Utopie" (Mayer, 213). Deshalb war er auch unfähig, den deutschen Konservativismus in eine neue Zeit zu führen und behutsam zu modernisieren.
Torsten Oppelland