Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hgg.): Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt/M.: Campus 2004, 493 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-37596-0, EUR 34,90
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Mit schöner Regelmäßigkeit wird in der wirtschaftshistorischen Forschung darüber diskutiert, ob sich das Fach auf die rein quantitativen Aspekte der Geschichte beschränken kann oder nicht vielmehr weite Bereiche der Gesellschaft und auch der Kultur in die Analyse mit einzubeziehen hat. Eine solche Debatte übernahm das Fach im Grunde als Erbe des Methodenstreites in der Nationalökonomie; er kennzeichnet das Forschungsprogramm der Wirtschaftsgeschichte und man könnte wenig wohlwollend von einem Gendefekt sprechen: Denn die Disziplin bezieht ihre Stärke gerade aus der umfassenden empirischen Analyse wirtschaftlichen und sozialen Strukturwandels, wobei systematisch auf sozialwissenschaftliche Theorien zurückgegriffen wird. Dessen ungeachtet treten immer wieder Positionen in den Vordergrund, die behaupten, das Fach müsse sich entscheiden, ob es Wirtschaftswissenschaft oder Kulturwissenschaft sein wolle.
Die Herausgeber des Sammelbandes "Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte" treten dieser Art von unreflektierten Positionen sehr deutlich entgegen. Es geht Hartmut Berghoff und Jakob Vogel um die "Synergiepotentiale" zwischen einer in den vergangenen Jahren zusehends ihres materiellen Gehaltes beraubten kulturalistischen Geschichtswissenschaft und einer Wirtschaftstheorie, die zumindest in einigen Zweigen in den letzten Jahren kulturelle Aspekte wieder stärker berücksichtigt. Es geht darum, die Wirtschaftsgeschichte gegenüber Theorieangeboten aus den unterschiedlichsten Nachbardisziplinen zu öffnen, denn ihr Gegenstand ist inhaltlich bestimmt, und nicht methodologisch. Der Titel des Sammelbandes ist daher auch nicht in dem Sinne misszuverstehen, dass hier eine neue Interpretation des Faches mit Absolutheitsanspruch formuliert werden sollte, sondern es geht um eine Lesart unter vielen möglichen, ein Angebot, in welcher Weise die Kooperation der kulturhistorischen und wirtschaftshistorischen Perspektive für beide Seiten fruchtbar ist.
In der Einleitung geben die Herausgeber einen sehr nützlichen Überblick über die Theorieangebote und Schulen, die in der Vergangenheit bereits für eine Verbindung kulturalistischer und ökonomischer Erklärungsansätze gesorgt haben. Sie tragen damit ganz erheblich zur Ordnung der ansonsten sehr zerfahrenen Diskussion um den Kulturalismus in der Wirtschaftsgeschichte bei: Die public-choice-Theorie, die Theoreme, die von beschränkter Rationalität der Akteure ausgehen, sowie die alte wie die Neue Institutionenökonomie und die Evolutionsökonomik werden auf der Seite der Wirtschaftswissenschaft genannt. Auf der Seite der Geschichtswissenschaft seien die Ansätze der Arbeitergeschichte, die annales-Schule und die Alltagsgeschichte dezidiert "materialistische" Ansätze gewesen, die den Gegenstandsbereich Wirtschaft ernster genommen haben, als das in vielen neueren kulturhistorischen Analysen der Fall ist. Der Sammelband - der aus einer Konferenz auf dem Höhepunkt der kulturalistischen Mode in der Geschichtswissenschaft im Jahr 2003 hervorging - richtet sich keineswegs mit erhobenem Zeigefinger an die Adresse der theoretischen Ökonomen, die angesichts der "Mathematisierung" des Faches die Geschichte vergessen hätten - wie Geoffrey Hodgson es einst formulierte. [1] Vielmehr klingt hier die Mahnung an, angesichts der immer abstrakter werdenden Themen der Kulturgeschichte die materiellen Existenzbedingungen historischer Gesellschaften nicht ganz aus den Augen zu verlieren.
Natürlich erreichen nicht alle Beiträge des Sammelbandes das von den Herausgebern gesetzte, sehr ehrgeizige Ziel. Auch wird man nicht erwarten können, dass moderne wirtschaftshistorische Analysen in Zukunft immer alle Ansätze gleichermaßen berücksichtigen, so dass die Vernachlässigung der "Kultur" sofort pejorativ als ein "Blick durch die statistische Brille" zu bewerten ist. Die Offenheit des Faches schließt keine Perspektive a priori aus. Insgesamt machen die Beiträge des Sammelbandes aber deutlich, wie schwierig es ist, Themen oder historische Ereignisse zu finden, die allein mit einer integrierten ökonomischen und kulturalistischen Perspektive erklärt werden können. In einem konzeptionellen ersten Teil des Sammelbandes fragt zunächst Christoph Conrad nach der Brauchbarkeit der Perspektive durch die "kulturelle Brille", was ihn zu einer Systematisierung des "cultural turn" in einen diskurstheoretischen und einen praxeologischen Zweig veranlasst. In beiden Zweigen kann er Beispiele für empirische Forschungsarbeiten beibringen, die mustergültig die beschränkte Reichweite von wirtschaftshistorischen Ansätzen zeigen, die sich auf statistisch messbare Preis-/ Mengenrelationen beziehen: Giovanni Levis Untersuchung der durchschnittlich höheren Preise, die bei Grundstücksverkäufen in einem Dorf im 17. Jahrhundert unter Verwandten im Gegensatz zu Geschäften mit Fremden erzielt werden, scheint nachdrücklich auf den Faktor Kultur zu verweisen. In Jakob Tanners Überblick über die Geschichte der Wirtschaftstheorie wird am Beispiel von Karl Polanyis Great Transformation und der Spieltheorie argumentiert, dass die Verbindung von Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte über ökonomische Handlungstheorien führt, die mit einem komplexeren Modell als dem des rationalen "homo oeconomicus" agieren.
In einer zweiten Sektion des Sammelbands finden sich Beiträge zur "Kultur von Märkten". So beschäftigt sich Hartmut Berghoff mit der Frage, auf welche Weise in den sich globalisierenden Märkten des späten 19. Jahrhunderts Vertrauen hergestellt werden kann, das für anonyme Geschäfte und vor allem für Investoren essentiell war. Neben den Verwandtschafts- und Familiennetzwerken, den klassischen Vertrauensbeständen der vor- und frühindustriellen Zeit, entstanden im späten 19. Jahrhundert immer mehr professionelle Vertrauensproduzenten, zu denen Berghoff Versicherer und Rückversicherer, aber auch Auskunfteien zählt. Genial gewählt erscheint in diesem Zusammenhang das Thema von Malte Zierenberg über den "Schwarzhandel in Berlin der 1940er Jahre". Aber Zierenberg beschränkt sich leider auf dessen "Kulturgeschichte", das Verbot und die Strafandrohungen, die den "komplexitätsreduzierenden Typus des Schiebers" hervorbrachten, der zur semantischen Bewältigung der Illegalität diente und diverse Hypothesen über das Rationalverhalten der Akteure. Interessanter wäre es hingegen gewesen, nachzuvollziehen, ob sich die Mechanismen der Preisanpassung auch auf diesen Märkten nachweisen lassen, auf dem nahezu kein Kriterium des lehrbuchmäßigen "vollkommenen Marktes" erfüllt ist.
In einer dritten Sektion werden "Träger spezifischer Wirtschaftskulturen" untersucht. Während sich Friedrich Wilhelm Graf mit der Frage beschäftigt, ob religiöse Weltbilder ökonomisches Handeln beeinflussen und hierbei auf eine umfassende theologische Forschung verweist, die weit über den allzu gerne verwendeten Max Weber hinaus geht, befasst sich Thomas Welskopp mit dem internationalen Vergleich von Unternehmenskulturen. Diese Problematik ist nicht nur angesichts der zunehmenden internationalen Verflechtung der Großunternehmen, bei der manches deutsche "Traditionsunternehmen" seinen Namen einbüßte, hochaktuell. Es verweist auch auf einen bedauerlichen Mangel der deutschen Unternehmensgeschichte, die viel zu wenig international vergleichend arbeitet. Welskopps Beitrag deutet dabei auf die immensen Schwierigkeiten eines solchen Vergleichs hin.
Aus der vierten Sektion über Wissen und Experten sticht vor allem Adam Toozes Beitrag über die Geschichte der Wirtschaftsstatistik hervor. Tooze kann sehr gut zeigen, dass das statistische Zahlenmaterial, auf das auch Wirtschaftshistoriker angewiesen sind, durch ökonomische Theorien und politische Ideologien zutiefst geprägt ist und schon als Rohmasse keineswegs einen "objektiven" Befund zulässt. Bei seiner Analyse handelt es sich aber um weit mehr als eine übliche "Quellenkritik", die Wirtschaftshistoriker bei der Auswertung von Statistiken immer anzuwenden haben, sondern es ist ein Hinweis darauf, dass zeitgenössische wirtschaftstheoretische Erkenntnisprogramme in eine wirtschaftshistorische Analyse im Grunde stets einzubeziehen sind. Einen solch unmittelbaren Bezug zwischen Wirtschaftsgeschichte und Wissensstrukturen weisen die Beiträge der fünften Sektion schließlich nicht mehr auf. Sie alle beschäftigten sich mit Leitbildern und Visionen, die eben auch einen Einfluss auf Marktgesellschaften haben, der aber kaum konkret zu bestimmen ist. Am ehesten gelingt dies noch Frank Trentmann, der die politische Propaganda für den Freihandel an der Wende zum 20. Jahrhundert in England untersucht. Auch Martina Heßlers Beitrag über die Visionen der Massenkonsumgesellschaft, die die Durchsetzung der Technisierung des Haushalts und der Selbstbedienung erst möglich machten, erhellt diesen Zusammenhang.
Wie sehr die Diskussion über "Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte", die die Herausgeber mit ihrem Sammelband aufgeworfen haben, das Fach in den letzten Jahren bestimmt hat, zeigt eine Podiumsdiskussion des Wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik, deren Beiträge in der VSWG publiziert wurden. [2] Aber dieselbe Diskussion zeigt auch, wie unsinnig eine Gegenüberstellung von "Kultur" und "Wirtschaft" ist, denn alle Beiträge konstatieren, dass in der Wirtschaftsgeschichte nie daran gedacht worden war, Kultur vollständig aus dem Untersuchungsfeld auszuschließen. Die Frage könne nur lauten, welchen Anteil "Kultur" an wirtschaftshistorischen Erklärungen haben solle. Es geht um die genauere Ausgestaltung des "Kooperationsvertrages" zwischen Kulturwissenschaft und Wirtschaftsgeschichte, - so Christoph Boyer - wobei die Kooperation an sich nicht in Frage gestellt wird. Lediglich jene Ansätze seien für die Wirtschaftsgeschichte indiskutabel, die "konstruktivistisch" argumentierten, die also die Realität als unzugänglich und lediglich die diskursive Beschreibungsebene als analysierbar betrachten. Auch hierin waren sich die Panellisten einig. Die Debatte dürfte hiermit beendet, das Spaltpotential des Begriffs Kultur für das Fach gebannt sein. Das "zweiseitige Anschlussdilemma" der Wirtschaftsgeschichte, wie Mark Spoerer es nannte, der Anschlussfähigkeit an die Wirtschaftswissenschaften einerseits und die Geschichtswissenschaften andererseits, aber bleibt weiterhin bestehen. Durch theoretische und konzeptionelle Beiträge dürfte es kaum zu lösen sein, sondern nur durch integrative empirische Studien.
Anmerkungen:
[1] Geoffrey M. Hodgson: How Economics Forgot History. The Problem of Historical Specifity in Social Science, London/New York 2001.
[2] Margrit Grabas/Hartmut Berghoff/Mark Spoerer/Christoph Boyer: Kultur in der Wirtschaftsgeschichte. Panel des Wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 94, 2 (2007), 173-188.
Jan-Otmar Hesse