Peter Veddeler (Bearb.): Domkapitel Münster, Akten (= Veröffentlichungen des Landesarchivs Nordrhein-Westphalen; Nr. 5), Düsseldorf: Landesarchiv Nordrhein-Westfalen 2006, LV + 1690 S., 3 Bde., ISBN 978-3-932892-19-6, EUR 39,80
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Geistliche Territorien und ihre vormodernen Verfassungsstrukturen haben in den letzten Jahren dank der vielen Jubiläumsausstellungen, die zur Säkularisation und zum Ende des Alten Reiches veranstaltet wurden, eine neue Aufmerksamkeit erfahren. Im Zuge dieses Aufschwungs erfolgte der Versuch einer Neubewertung. Denn es galt, so die einhellige Meinung, das seit der Aufklärung tradierte Bild zu korrigieren, wonach geistliche Territorien grundsätzlich von Rückständigkeit und Reformunwilligkeit geprägt gewesen seien.
Zur Herrschaftselite der frühneuzeitlichen Fürstbistümer, jenen geistlichen Territorien, die ins Blickfeld der Forschung aufgrund ihres flächenmäßigen Umfangs und eines mehr oder minder großen reichspolitischen Einflusses geraten sind, gehörten die Domkapitel. Diese traten als Berater, Mitregenten und in einigen Fällen auch als Konkurrenten ihrer Landesherren auf. Dies gilt in besonderem Maße für das Domkapitel zu Münster, das, auch aufgrund der Nebenlandstellung des Bistums, seine Position bis zum Ende des Alten Reiches weitgehend unangefochten behaupten konnte. Das Domkapitel wählte den Landesherren, verpflichtete ihn auf eine Wahlkapitulation und führte als erster Landstand den Vorsitz auf den Landtagen. Den weitaus größten Handlungsspielraum hatte das Domkapitel während der Sedisvakanz. In dieser Zeit führte es die Regierungsgeschäfte und erhielt die Domäneneinkünfte.
Mit Blick auf das generelle Interesse der Geschichtswissenschaft an vormoderner Herrschaftspraxis einerseits, und dem gesteigerten Forschungsinteresse an geistlichen Staaten andererseits, ist es umso erfreulicher, dass das Staatsarchiv Münster nun das Findbuch zu den Akten des münsterischen Domkapitels veröffentlicht hat. Bereits vor einigen Jahren hatte der Bearbeiter P. Veddeler das aus dem 18. Jahrhundert stammende, handschriftliche Findbuch durch eine neue Verzeichnung ersetzt. Dieses Repertorium ist nun auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. Für den Archivnutzer bedeutet dies eine erhebliche Arbeitserleichterung, da er bei der Vorbereitung eines Archivbesuchs nicht mehr nur auf die gedruckte Kurzübersicht angewiesen ist.
Die Einleitung des mit einigen farbigen Bildern zur Stadt- und Bistumsgeschichte illustrierten Findbuchs macht bereits den Stellenwert des Domkapitels in der Geschichte des Bistums Münster sowie dessen politischen Einfluss und Selbstverständnis deutlich und führt in die Spannbreite der archivarischen Überlieferung ein. Der Berichtszeitraum reicht vom Hochmittelalter bis zur Aufhebung des Domkapitels per Dekret im Jahre 1811, jedoch markiert dieses Jahr nicht den Endpunkt der Überlieferung, da bis 1832 das Archiv geringfügig um einige Schriftstücke ergänzt wurde. Die über 5000 Verzeichnungseinheiten sind in vier Großkapitel untergliedert. Sie befassen sich mit den Angelegenheiten der Korporation, einzelner Domherren und der Domvikare sowie mit Quellen, die das gesamte Fürstbistum betreffen.
Die Archivalien des ersten Abschnitts erlauben einen Einblick sowohl in den normativen Bereich der Rechte und Privilegien der adligen Domherren als auch in die geistlich-weltliche Herrschaftspraxis, die sich vor allem über den großen Bestand zu den Archidiakonaten und Gogerichten erschließt. Über die politisch-soziale Verfassung und ökonomischen Grundlagen des Domkapitels informieren die im zweiten Abschnitt verzeichneten Quellen zu den Dignitäten und Ämtern sowie zu den damit verbundenen Einkünften. Darüber hinaus liefern jedoch auch die Präbendalsachen reichliches Material für adelsgeschichtliche Fragestellungen mit breiter angelegtem Untersuchungsraum. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die domkapitularischen Testamente, in denen sich das adlige Selbstverständnis widerspiegelt. Im Gegensatz zu den Domherren, die ihre Stiftsfähigkeit durch die Sechzehnerprobe nachzuweisen hatten, gingen die Domvikare in der Regel aus dem Bürgertum hervor. In zunehmendem Maße übernahmen diese in der Frühen Neuzeit für die Domherren liturgische Handlungen. Der dritte Abschnitt zu den Domvikaren wird daher für Fragestellungen zur städtischen Kirchen- und Sozialgeschichte von Bedeutung sein. Über die Stadtgeschichte hinausreichende Themen, wie Landes- und Reichssachen, bilden einen sehr umfangreichen, letzten Abschnitt. Quellen zu den Reichs-, Kreis- und Landtagen erhellen die Stellung des geistlichen Territoriums im Reich, aber auch das Verhältnis der Landstände zum Landesherren. Eine intensivere Beschäftigung mit dem Domkapitel als politische Korporation innerhalb des landständischen Gefüges sowie seiner obrigkeitlichen Rolle vor allem in Zeiten der Sedisvakanz ist vor allem unter Heranziehung der in diesem Teilbereich verzeichneten Landtagsakten noch möglich.
Die Benutzung des Findbuchs wird durch eine Konkordanz zu den Altsignaturen und ein Namensregister erleichtert. Jedoch werden vermutlich Forscher, die nicht genealogisch oder lokalgeschichtlich arbeiten, ein Sachregister vermissen, das den Zugang zu vergleichenden Themen hätte erleichtern können. Bei der Benutzung gilt zudem - wie bereits in der Einleitung vom Bearbeiter betont - dringend zu berücksichtigen, dass umfangreiche Aktenbestände auch in weiteren Beständen zu suchen sind.
Noch immer bleibt zu beklagen, dass der Bestand durch die im 19. Jahrhundert erfolgte Zusammenstellung einer "Handschriftensammlung" (Staatsarchiv Münster, Msc. VI: Neue archivalische Sammlung) zersplittert wurde. Trotz Bemühungen seitens des Staatsarchivs, die Archivalien wieder zusammenzuführen, sind beispielsweise die Korrespondenzen des Domkapitels weiterhin in der Handschriftensammlung zu finden. Somit ist es besonders begrüßenswert, dass das Staatsarchiv Münster einen schnellen Zugriff auf etliche Findbücher durch die Bereitstellung im Internet ermöglicht hat (so auch das Findbuch zu der erwähnten Handschriftensammlung). Das Findbuch zu den Akten des Domkapitels Münster gehört jedoch bislang leider nicht dazu. Dies ist gerade auch mit Blick auf den Umfang und den Preis des aus drei Bänden bestehenden Findbuches zu bedauern, dessen Layout zudem Platz sparender hätte gestaltet werden können.
"Etliche Papiere, so ohne sonderlichen Wert". So lautete die Einschätzung des frühneuzeitlichen Registrators zu einigen Quellen in dem alten, nun glücklicherweise überholten Findbuch (vgl. XXXII). Dank P. Veddeler ist die Neubewertung dieser Schriftstücke für geschichtswissenschaftliche Fragestellungen nun erheblich erleichtert worden. So bleibt zu hoffen, dass dieses Findbuch dazu beitragen wird, das Domkapitel Münster noch stärker in den Mittelpunkt weiterer Forschungen zu stellen.
Elizabeth Harding