Hans-Christof Kraus: Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (= Enzyklopädie deutscher Geschichte; Bd. 82), München: Oldenbourg 2008, XII + 168 S., ISBN 978-3-486-55727-5, EUR 19,80
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Der Autor ist nicht zu beneiden: Während etwa das "Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte" für das 19. Jahrhundert zwei dicke Bände mit zusammen etwa 1000 Seiten umfasst [1], muss sich Hans-Christof Kraus mit 160 Seiten bescheiden, um "Bildung, Kultur und Wissenschaft im 19. Jahrhundert" darzustellen. Dazu ist er noch an das strenge Schema der Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" gebunden, das stets eine Dreiteilung der Bände vorsieht in eine überblicksartige Darstellung, einen Forschungsbericht und eine nach Sachgesichtspunkten gegliederte Bibliografie. Der Autor musste damit komprimieren und auswählen, also weglassen, ohne dass Lücken entstehen und so zusammenfassen, dass trotzdem die Hauptlinien und die Zusammenhänge deutlich werden. Das ist Kraus auf bewundernswerte Weise gelungen.
Im ersten Teil, dem enzyklopädischen Überblick, nimmt Kraus eine Dreiteilung des Stoffes vor, die ihm neben der Personen-, Institutionen- und Geistesgeschichte neue methodische Zugriffe ermöglicht. So etwa, indem am Anfang des Kapitels über "Kultur, geistiges Leben, Wissenschaft" die "Grundbedingungen geistigen Lebens" angeführt werden, die Kultur also eingeordnet wird in die allgemeine sozialgeschichtliche, aber auch politische und wirtschaftliche Entwicklung des Zeitalters. Die erste Grundbedingung ist hier die Alphabetisierung der Bevölkerung, das Anwachsen des Anteils der Lesekundigen von etwa 25 % um 1800 auf mehr als 90 % der Bevölkerung hundert Jahre später. Es folgen technische Neuerungen wie die Erfindung der Rotationspresse oder die Eisenbahn, ohne die der Aufschwung der Presse, des Verlagswesens und der Lesevereine nicht möglich gewesen wäre. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Zensur gehört zum politischen Rahmen, innerhalb dessen sich die Kultur bewegte und der das System der Andeutungen und versteckten Gegenwartskritik nötig machte, den "Ideenschmuggel", wie Karl Gutzkow das Ausweichen vor der versuchten Meinungslenkung nannte (2).
Nachdem er solchermaßen den sozialen, ökonomischen und politischen Rahmen der Kultur abgesteckt hat, kommt Kraus zur Darstellung der inhaltlichen Entwicklung von Literatur, Malerei, Architektur und Musik. Auch hierbei betont er das Eingebundensein der Kultur in den allgemeinen historischen Kontext. Die Entwicklung der Philosophie erscheint nicht nur als Bestandteil der Wissenschaftsgeschichte, sondern verlässt den Elfenbeinturm und wird gemeinsam mit Weltanschauung und Denkströmungen, mit Mentalitätsgeschichte und Deutungsmustern, mit Religionskritik, Säkularisierung und dem Aufschwung naturwissenschaftlichen Denkens präsentiert. In diesem Zusammenhang steht auch der Historismus, zunächst als Methode der Geschichtswissenschaften und darüber hinaus in seiner Bedeutung für die allgemeine Entwicklung des Denkens im 19. Jahrhundert. Im nächsten, der Entwicklung der Wissenschaften gewidmeten Kapitel kommt der Historismus folgerichtig noch einmal vor, als Ausgangspunkt der Entwicklung in den Geisteswissenschaften, für die die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert zur Leitdisziplin wurde. Dies wird ebenso wie der Prozess der Ausdifferenzierung in den Naturwissenschaften in knappen, treffenden Strichen skizziert, die die Umrisse deutlich werden lassen und Ansatzpunkte bieten für eine intensivere Beschäftigung mit einzelnen Aspekten.
Nach diesem auf die Inhalte konzentrierten Kapitel behandeln die beiden nächsten Kapitel des ersten Teils Institutionen und ihre Träger: Nach einem Abriss der Universitätsgeschichte folgt die sozialgeschichtliche Verortung ihrer Angehörigen, der Professoren und Studenten. Ein eigenes Kapitel ist der Ausdifferenzierung und Ausweitung des Hochschulwesens jenseits der Universitäten gewidmet, der Gründung von Technischen Hochschulen, Handelshochschulen, Berg- und Militärakademien sowie kirchlichen Hochschulen. Schließlich werden Akademien, Bibliotheken, Museen und wissenschaftliche Vereine vorgestellt, die sich, teilweise aus vormodernen Gelehrteneinrichtungen hervorgegangen, zu wissenschaftlichen Institutionen entwickelten und die Popularisierung von Wissenschaft betrieben.
Die Darstellung des Schulwesens skizziert zunächst die Entwicklung und Ausdifferenzierung des höheren Schulwesens. Ohne den Vorbildcharakter des preußischen Gymnasiums zu verkennen, findet auch die Entwicklung in den anderen Staaten und auch in Österreich Berücksichtigung. Hier wie auch bei der Darstellung der Mittel- und Volksschulbildung betont Kraus die Verbindung der institutionellen Entwicklung und der Lehrinhalte zu politischen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen der Zeit. Bildung war die Vermittlung nützlicher und wirtschaftsrelevanter Kenntnisse, doch sie sollte stets auch den Charakter formen, den Menschen eben "bilden".
Was Kraus bis dahin bereits in seiner Darstellung praktisch vorgeführt hat, expliziert er zu Beginn des Forschungsteils als methodisches Programm: Nachdem ein lange dominierender "Trend zur positivistischen Faktenanhäufung mit eher zurückhaltender Wertung und Analyse" zu Beginn des 20. Jahrhunderts abgelöst wurde durch eine geistesgeschichtliche Betrachtungsweise, die wiederum seit den 1960er Jahren einer überwiegend sozialgeschichtlich ausgerichteten Bildungsgeschichte Platz machte, werde in der Gegenwart eine Kombination verschiedener Ansätze versucht "und damit die Bildungsgeschichte enger in den Zusammenhang sowohl der allgemeinen politisch-sozialen als auch der geistesgeschichtlich-kulturellen Entwicklung" gestellt (58). Die Gliederung des Forschungsberichtes erfolgt - nach einer Übersicht über die Quellenlage und die Überblicksdarstellungen - entlang der Themen und Gegenstände. Das ist aus der Perspektive des Benutzers nur zu begrüßen, der - etwa für eine Seminararbeit - in der Regel am Gegenstand orientiert den Forschungsstand ermittelt und bibliografiert. Wiederum wird das Bestreben deutlich, geistesgeschichtliche Ansätze ebenso zu berücksichtigen wie sozial- und politikgeschichtliche. Die Grenzen von Subdisziplinen werden aufgehoben und die Verbindungslinien von Einzelgegenständen und -fragestellungen zum übergreifenden Ganzen der Geschichte des 19. Jahrhunderts hervorgehoben.
Auf dem gegebenen knappen Raum kann ein solches Handbuch selbstverständlich nicht alles enthalten. Das ist auch weder seine Aufgabe noch seine Intention. Beeindruckend ist die souveräne Durchdringung des außerordentlich umfangreichen Stoffes und dessen Präsentierung mit dem spezifischen Zugriff des Historikers. Die Herstellung eines Gesamtzusammenhanges und die Einordnung von Spezialinformationen in diesen Rahmen werden den besonderen Wert dieses Werkes für Studenten ausmachen. Für die Vertiefung und das Verfolgen wissenschaftlicher Einzelthemen und Spezialfragen werden Handreichungen gegeben und Wege gewiesen. Als Ausgangspunkt für eine Beschäftigung mit Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert ist dieser Band der Reihe "Enzyklopädie deutscher Geschichte" damit bestens geeignet.
Anmerkung:
[1] Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. III. 1800-1870. Von der Neuordnung Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Reiches, hg. v. Karl-Ernst Jeismann / Peter Lundgreen, München 1987; Bd. IV. 1870-1918. Von der Reichsgründung bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, hg. v. Christa Berg, München 1991.
Barbara Wolbring