Volker Reinhardt: Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München: C.H.Beck 2009, 271 S., 14 Abb., 3 Karten, ISBN 978-3-406-57556-3, EUR 24,90
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Unübersehbar in der Menge, dabei historiografisch meist wenig innovativ ist das Genre der einzelstädtischen Reformationsgeschichte. Volker Reinhardts termingerecht vorgelegte Schilderung der Reformation in Genf vermeidet Langeweile durch Thesenstärke und einen literarisch ambitionierten (oft allerdings übertrieben süffigen) Stil. Das Ergebnis ist eine schmale, gut proportionierte Monografie, die auf den ersten Blick mehr Provokationen zu bergen scheint, als ihr Inhalt bei näherer Lektüre hergibt. Aus der erzähltechnischen Not einer im Fall Genfs, wie bekannt, zunächst äußerst zögerlich und schleppend verlaufenden Ratsreformation macht Reinhardt eine Tugend: Obgleich er die bereits im 16. Jahrhundert eingetretene Unterbewertung der reformatorischen Anfänge unter Guillaume Farel kundig korrigiert, legt auch er allein durch die Ökonomie der Darstellung alles Gewicht auf die Person Jean Calvins. Vorher, so scheint es dem Leser, gab es in Genf keine kohärente evangelische Theologie; und keine andere Persönlichkeit als Calvin wäre in der Lage gewesen, die Implementierung der Reformation in der Stadt unter den schwierigen Bedingungen innerer Spannungen und äußerer Bedrohungen - auch durch die erdrückend überlegene Schutzmacht Bern - zu leisten.
Die Faszination, die das Gelingen der "unmögliche[n] Mission" (17) Calvins dem Historiker abnötigt, ist Reinhardts Darstellung auf jeder Seite anzumerken. Ihr Ziel ist, mithilfe einer kontrollierten Analyse der sozialen Strategien, kulturellen Wandlungsprozesse und mentalen Prägungen der an der Genfer Reformation beteiligten Gruppen den Erfolg des Reformators zu erklären, der zu einem seinerzeit beispiellos raschen Wandel im Erscheinungsbild, in den Lebensverhältnissen und im Selbstverständnis einer europäischen Stadt geführt hat (223). Das schließt ein Interesse an Calvins Theologie ein. Sie ist so homogen, dass ihr im Vergleich der Reformatoren der ersten Generation wohl nur noch Melanchthons Werk an die Seite gestellt werden kann. Das kurze Resümee, das Reinhardt exkursartig in seine Darstellung einflicht (63-83), ist nicht schlecht gelungen.
In erster Linie aber geht es um eine genaue Rekonstruktion der vielen makro- und mikropolitischen Weichenstellungen und Dynamiken, die in der Summe eine derart tief greifende lokale Reformation wie die Genfer ausmachen. Knotenpunkte der Darstellung sind die Ratswahlen, die immer Ausgleich zwischen den Extremen brachten. Dabei wird deutlich, wie allein die personelle Kontinuität der 'Compagnie des Pasteurs' Calvin mit der Zeit einen uneinholbaren Machtvorsprung gegenüber den wechselnden politischen Majoritäten brachte, da sich die Geistlichen das "Erklärungsmonopol" sicherten (177); dasselbe gilt für die allmähliche Ausdehnung der Kompetenzen des Konsistoriums, die vonseiten des Rats unwidersprochen blieb (164).
Reinhardt votiert bei alldem für einen Begriff des Politischen, der nach zeitgenössischem Verständnis die Heilsdienlichkeit der politischen Entscheidungen mit einschließt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es für Calvin von essenzieller Bedeutung war, für seine reformatorischen Projekte stets Mehrheiten bei den politischen Entscheidungsträgern zu organisieren. Reinhardt leitet hieraus die diskutable These ab, dass dieses "Trauma der politischen Unbeständigkeit" (10) Spuren in Calvins Theologie bis in seine Erwählungslehre hinterlassen hat. Calvin als einen Meister des Kompromisses darzustellen, der den Bestand politischer wie kirchlicher Ordnung allein durch institutionell bestimmte gegenseitige Kontrolle und Aufsicht garantiert sah (61, 103; in Bezug auf das Konsistorium anschaulich 127f.), ist nicht die geringste Leistung des Buches. Langfristig kam es zudem in Genf unter den Bedingungen von Cliquenpolitik und forcierter Immigration zu einem "Austausch der Elite" (188), der Calvin in die Hände spielte. Inwieweit dem Reformator allerdings auch an individueller Akzeptanz seiner Vorgaben im gesamten sozialen Spektrum gelegen war - diese Frage beantwortet Reinhardt, obgleich er sie als Problem erkennt (83), kaum. Allenfalls führt uns Reinhardt Fälle vor, in denen Calvins Gegnern deviantes moralisches Verhalten zum Verhängnis wurde - doch die Motivationen der Verlierer im Konfessionalisierungsprozess bleiben leider unterbelichtet.
Dabei könnte die Stärke des skizzierten Ansatzes gerade darin liegen, die Engführung des Politischen und des Privaten im lokalen Konfessionalisierungsgeschehen nachzuweisen. Als verwandten Typus stellt Reinhardt Calvin denn auch keinen anderen als Machiavelli zur Seite. Die beiden verbinde das Interesse daran, den im Naturzustand eigensüchtigen und haltlosen Menschen "zum aufopferungsvollen Bürger-Soldaten umzuerziehen." (11) Machiavelli begleitet die Darstellung als immer wiederkehrender 'Sidekick' - stilistisch ist das unterhaltsam, doch mangels eigener Profilierung des Florentiners und seiner Politiktheorie schöpft Reinhardt nicht das Potenzial des Vergleichs aus. Es ist unzulässig vereinfacht, wenn Calvin und seiner Partei durchgehend 'subtilste Staatsräson' unterstellt wird (so 182).
Reinhardt hat die Forschung der vergangenen Dekaden zum reformatorischen Genf - allen voran ist hier das weitgespannte Œuvre Robert Kingdons zu nennen - weitgehend präsent. An anderer Stelle haben Rezensenten allerdings nachgewiesen, dass ihm in einigen Fällen Fehler unterlaufen sind, die jedes Mal dazu führen, dass Calvins Intransingenz in unangemessener Weise betont wird. Am schwersten wiegt folgender Einwand: Reinhardt ziehe aus dem vorübergehend starken Anwachsen der Aktivitäten des Konsistoriums den Fehlschluss, dass seit Mitte der vierziger Jahre "die soziale Kontrolle und mit ihr wohl auch die Praxis der Denunziation zugenommen" habe (147). Tatsächlich müsse dieser Umstand aber direkter als Reinhardt das tut in Verbindung mit dem starken Zustrom von Glaubensflüchtlingen nach Genf gesehen werden. [1]
Zu kritisieren ist außerdem - und das ist bei einem Buch, das den Forschungsstand nicht erweitern will, womöglich wichtiger - der einseitige Zuschnitt der Darstellung: Im Fokus bleibt stets der Protagonist Calvin. Seine Pastorenkollegen, vor allem Beza - und auch die jüngste Forschung zu diesem hochwichtigen Reformator der zweiten Generation - finden kaum Erwähnung, ebenso wenig Calvins Parteigänger im Rat. Entscheidende theologische Weichenstellungen wie der sogenannte Consensus Tigurinus von 1549 - der erhebliche politische Folgen hatte und gleichzeitig ein nicht unproblematisches Zugeständnis Calvins an die protestantischen Luthergegner bedeutete - kommen zu kurz (155). Eine Reformationsgeschichte der Stadt Genf mit wahrnehmbaren Lücken also - doch gleichzeitig ein rhetorisch wohlkomponiertes historisches Lehrstück darüber, wie eine widerspenstige Gesellschaft durch den Einsatz charismatischer Autorität dazu gebracht werden kann, sich selbst tief greifend zu transformieren.
Anmerkung:
[1] Vgl. Achim Detmers: Rezension zu Volker Reinhardt »Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf «, in: Reformierter Bund in Deutschland (Hg.): calvin09. Johannes Calvin 1509-2009, URL: http://www.reformiert-info.de/side.php?news_id=4172&part_id=0&navi=16 (letzter Zugriff am 31.08. 2009). Worauf es Reinhardt allerdings an der inkriminierten Stelle in erster Linie ankommt, ist, zu zeigen, in welchem Ausmaß das Konsistorium ohne strafgerichtliche Weiterungen selbstständig "'Friedensgerichtsbarkeit' verrichtete." (148)
Johannes Wischmeyer