sehepunkte 9 (2009), Nr. 9

Johannes Calvin (1509-1564)

Einführung

Von Johannes Wischmeyer

"Le mystère Calvin" - so jüngst das Titelthema der populären französischen Geschichtszeitschrift l'Histoire.[1] In Frankreich ist der Name des Genfer Reformators, dessen Geburt sich 2009 zum 500. Mal jährt, immer noch ein Reizwort. Der unbefangene Blick auf Person, Werk und Zeitgenossenschaft Calvins blieb der französischen Öffentlichkeit lange verstellt durch die ideologische Aufladung und Instrumentalisierung, die dem Calvinismus in den Epochen der Gegenreformation, der Aufklärung und der Restauration zuteil geworden war. Ein Strauß neuer Veröffentlichungen beweist jetzt, dass Calvin allmählich zu einer normalen Rolle im intellektuellen Kanon der Nation findet.[2]

Die Situation in Deutschland ist anders: Hier, wo seit Beginn des 19. Jahrhunderts die reformierte Konfession weitgehend marginalisiert worden ist, spielen Calvin und Calvinismus im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle. Lange Zeit dominierte in der Forschung Ernst Troeltschs und Max Webers religionssoziologische Perspektive auf die 'Kulturfolgen' der westeuropäischen Reformation.[3] Mit der Theologiegeschichtsforschung, die - angestoßen von Abraham Kuypers Schule und später auch von Karl Barths Dialektischer Theologie - erst allmählich wieder Calvins Werk in der gesamten Dimension in den Blick nahm, kam es selten zu fruchtbarem Austausch. Seit einer Generation intensiviert sich die Forschung speziell zu den politischen und kulturellen Aspekten des Reformiertentums. Das ist in erster Linie der Konfessionalisierungsdebatte zu verdanken, auch wenn das Konfessionalisierungsparadigma angesichts der jüngeren Bemühungen, den Calvinismus im europäischen Vergleich bzw. als internationales Phänomen zu analysieren, nur begrenzten Erkenntniswert hat.

Deutlich hat sich in letzter Zeit auch die Einsicht verstärkt, wie stark die anglikanische Theologie und Kirchenverfassung durch den Calvinismus geprägt wurde. Diarmaid MacCulloch hat allerdings konstatiert, dass der allmähliche Übergang zur Rezeption reformierter Theologie während der Edwardianischen Reformation in England wie auch anderswo "without much help from Calvin" erfolgte - Heinrich Bullinger und sein Kreis besaßen zunächst wesentlich mehr Einfluss.[4]

Dieses sehepunkte-Forum behandelt eine Auswahl der jüngsten deutsch- und englischsprachigen Literatur zum Thema Calvin und Calvinismus. Zunächst ist 2009, wie schon am französischen Beispiel gesehen, das Jahr der Calvin-Biographien. Eine Sammelrezension stellt die wichtigsten deutschsprachigen Veröffentlichungen vor.[5] Die Schwerpunktsetzungen sind unterschiedlich. Gemeinsam ist den Autoren, dass sie angesichts der schwierigen Quellenlage ein Bild der Persönlichkeit Calvins vor allem indirekt über seine politischen Aktionen und sozialen Kontakte rekonstruieren. Dabei wird deutlich, dass Calvin zwar wohl zu Recht von jeher als "ruthless, and an outstanding hater"[6] qualifiziert wurde. Gleichzeitig besaß er aber - darin seinen Humanisten- und Reformatorenkollegen ähnlich - nicht nur außerordentliches Geschick in der Bildung von Netzwerken, sondern auch ein genuines Talent für Freundschaft.[7]

Die theologiehistorische Forschung zum Werk Calvins und seiner Schüler verläuft offensichtlich in längeren Zyklen und kann im Jubiläumsjahr zunächst keinen neuen Boom verzeichnen. Anders als im deutschen Sprachraum existiert in den Vereinigten Staaten eine relativ dichte Diskussion.[8] Die jüngste Kontroverse dreht sich um den Vorstoß einiger stark systematisch orientierter Calvininterpreten, die die unio des Glaubenden mit Christus zum zentralen Prinzip von Calvins Theologie erklären.[9] Auch wenn der Allgemeinhistoriker hier womöglich arkane Gottesgelehrsamkeit wittert: Ohne theologie- und dogmengeschichtliche Detailanalysen bleiben alle ideen-, kultur- und sozialgeschichtlichen Kontextualisierungen unscharf. Eine gute Einstiegshilfe auch für Nichttheologen leistet das neue bei Mohr Siebeck erschienene Calvin[-]Handbuch. Daneben tritt ein thematisch sehr ausgewogener, inzwischen auch in französischer und in englischer Sprache erschienener Schweizer Aufsatzband. Diesen wichtigen Neuerscheinungen sind hier ausführliche Rezensionen gewidmet.

Herman Selderhuis spricht von Calvins 'Ikea-Theologie'. Damit versucht er zunächst zum Ausdruck zu bringen, dass Calvin unterschiedliche theologische Anregungen in einem leicht nachzuvollziehenden Denkraster kombiniert.[10] Traditionen und Prägungen im Werk des Reformators, der nie eine klassische universitätstheologische Ausbildung genoss, sind dabei nach wie vor umstritten. Wilhelm Neusers hier besprochene Biographie des jungen Calvin resümiert den Forschungsstand. (Die Forderung Heiko A. Obermans, die intellektuellen Einflüsse speziell des Scotismus auf Calvin näher zu untersuchen, weist Neuser allerdings explizit zurück.[11]) Calvins Theologie ist nicht zu verstehen ohne die entscheidende Rolle der Bibelauslegung - das wird auch deutlich in unserer Rezension des Sammelbandes , den Herman Selderhuis zum Exegeten Calvin vorgelegt hat. Außerdem wird Cornelis P. Venemas Untersuchung zu Calvins Konzept der doppelten Gnade kritisch referiert.[12]

Selderhuis' griffige Ikea-Formel ist gleichzeitig in umgekehrter Zeitrichtung gemeint: So hat sich seit dem 16. Jahrhundert Calvins theologisches Denken - in Gestalt der optimal rezeptionsfähigen 'Institutio' - bei großer inhaltlicher Kohärenz als sehr anpassungsfähig an unterschiedliche politische und kirchliche Bedingungen erwiesen. Damit steht Calvin - zusammen mit Persönlichkeiten wie Martin Luther und speziell auch Philipp Melanchthon und Martin Bucer - in einer Reihe international einflussreicher 'magisterial reformers'. Immer stärker hat sich in der Forschung der vergangenen Jahrzehnte das Bild bestätigt, dass Calvins Genf in weiten Teilen Europas zum Modell wurde, das unabhängig von der Wittenberger Reformation Martin Luthers rezipiert werden konnte. Der hier rezensierte, von Mack P. Holt herausgegebene Sammelband thematisiert solche 'Adaptations of Calvinism' vor allem in West- und Mitteleuropa, zeigt im Ergebnis aber auch, dass Calvins Theologie und Genfer Kirchenordnung häufig nicht im Zentrum reformierter Identitätsbildung standen.

Diarmaid MacCulloch hat die Genfer Reformation wegen ihres umfassenden Regelungsanspruchs als "the Reformed answer to Münster" bezeichnet.[13] Dass sie eine eigenständige Behandlung verdient - da sie, anders als viele reformatorische Zentren, auf die sie ausstrahlte, keine obrigkeitsferne 'Reformation der Flüchtlinge' war, sondern, wenn, dann eher eine Stadtreformation, die nolens volens in die Hände von Glaubensflüchtlingen überging - führt Volker Reinhardts populäre Monographie über Calvins 'Tyrannei der Tugend' vor Augen, der ebenfalls eine Rezension gewidmet ist.

In Aufnahme der klassischen kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Fragestellungen wird in jüngster Zeit wieder vermehrt nach den kulturellen Implikationen der reformierten Theologie und Kirchenordnung - womöglich eben im Vergleich zum Luthertum eine "Hotter Sort of Protestantism"[14] - gefragt. Christopher R. Joby, der Kunst- und Ideengeschichte zusammenführt, und Christoph Strohm, der eine magistrale Darstellung der theologischen Prägungen im Werk reformierter Juristen vorgelegt hat, stehen im sehepunkte-Forum stellvertretend für diese Forschungsperspektive. Sie ist selbstverständlich um bildungs-, wissenschafts-, politik- und wirtschaftshistorische Kontexte zu erweitern.[15]

Die Frage nach der im Calvinismus angelegten kulturellen und intellektuellen Dynamik gewann bei Weber und Troeltsch ihre Brisanz daraus, dass man - angeregt von der historischen Selbstwahrnehmung - meinte, hier Triebkräfte der Moderne identifizieren zu können. Der Gedächtnisort 'Calvin und Reformiertentum' erfuhr, wie schon der Blick auf Frankreich zeigte, in der europäischen Geschichte vielfältige Aneignungen. Umso mehr erstaunt es, dass - während im Vorlauf auf das Lutherjubiläum im Jahr 2017 bereits jetzt die Erinnerungsgeschichte der Wittenberger Reformation ausführlich thematisiert wird - die Calvin-Memoria in der jüngsten deutschsprachigen Forschung kaum ein Thema ist.[16] Wie gewinnbringend eine vergleichende, europäische Perspektive auf das Thema sein kann, beweist ein eben erschienener niederländischer Tagungsband.[17]

Man möchte hoffen, dass es sich bei der Popularität Calvins in der Frühneuzeitforschung, die sich im Jubiläumsjahr 2009 nicht nur in der Vielzahl neuer Publikationen, sondern auch in mehreren internationalen Tagungen und wissenschaftlich begleiteten Ausstellungen dokumentierte, nicht nur um ein Strohfeuer handelt. Calvin bleibt um seiner selbst willen interessant, auch jenseits einer in der Öffentlichkeit forcierten Gedenkpolitik.


Anmerkungen:
[1] Vgl. das Calvin-Dossier in: l'Histoire, Nr. 340, März 2009, 40-67.
[2] Vgl. die beiden neuen wissenschaftlich fundierten Calvin-Biographien: Olivier Millet: Calvin: Un homme, un œuvre, un auteur (Infolio) 2009, und: Pierre Janton: Jean Calvin, ministre de la parole: 1509-1564 (Le Cerf), 2008, die neue Pléiade-Ausgabe: Jean Calvin, Œuvres (éds. Francis Higman / Bernard Roussel) (Gallimard), 2009, sowie den Sammelband: Calvin et la France (Hgg. Bernard Cottret / Olivier Millet) (Bulletin de la Société de l'Histoire du Protestantisme Français 155), Genf 2009.
[3] Vgl. Christoph Strohm: Nach hundert Jahren: Ernst Troeltsch, der Protestantismus und die Entstehung der modernen Welt, in: Archiv für Reformationsgeschichte 99 (2008), 6-35; eine Literaturübersicht zur 'Weber-These' bietet die Einleitung der Herausgeber in: Max Weber, Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus (Hgg. Klaus Lichtblau / Johannes Weiß), Weinheim 3. Aufl. 2000, VII-XXXV.
[4] Diarmaid MacCulloch: Reformation. Europe's House Divided 1490-1700 (Penguin), 2004, 259.
[5] Vor kurzem erschienen ist: Bruce Gordon: Calvin (Yale UP), 2009.
[6] Gordon, Calvin (2009), VII.
[7] Vgl. Machiel A. van den Berg: Friends of Calvin [orig.: Vrienden van Calvijn], (Eerdmans) 2009.
[8] Hier sei nur auf die Beiträge Richard A. Mullers, eines der führenden Calvinexperten in den USA, zu Werk und Wirkungsgeschichte Calvins verwiesen: Post-Reformation Reformed Dogmatics: the Rise and Development of Reformed Orthodoxy, ca. 1520 to ca. 1725 (Baker Academic), 2. Aufl. 2003/2006 (4 Bde.); The Unaccommodated Calvin: Studies in the Foundation of a Theological Tradition (OUP), 2000; After Calvin: Studies in the Development of a Theological Tradition (OUP), 2003.
[9] Vgl. die kritische Auseinandersetzung mit diesem Ansatz in: Thomas L. Wenger: The New Perspective on Calvin: Responding to Recent Calvin Interpretations, in: Journal of the Evangelical Theological Society 50/2 (2007), 311-328; weiter: Marcus Johnson: New or Nuanced Perspective on Calvin? A Reply to Thomas Wenger, in: Journal of the Evangelical Theological Society 51/3 (2008), 543-558; Thomas L. Wenger: Theological Spectacles and a Paradigm of Centrality: a Reply to Marcus Johnson, in: aaO., 559-572.
[10] Vgl. vorerst den Tagungsbericht bei: Alexander Kissler: Meister der Ikea-Theologie. Eine Tagung in München untersucht Calvin und sein Werk, in: Süddeutsche Zeitung, 15. Juli 2009, 11.
[11] Wilhelm H. Neuser: Johann Calvin - Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509-1541, Göttingen 2009, 37; vgl. nur: Heiko A. Oberman: Zwei Reformationen. Luther und Calvin - Alte und Neue Welt, Berlin 2003, 196.
[12] Vgl. unter den neuesten Veröffentlichungen zum Thema jetzt auch die historisch wesentlich belastbarere Monographie: Mark A. Garcia: Life in Christ: Union with Christ and twofold Grace in Calvin's Theology (Paternoster), 2008.
[13] MacCulloch, Reformation (2004), 237.
[14] David G. Mullan: A Hotter Sort of Protestantism? Comparisons between French and Scottish Calvinisms, in: The Sixteenth Century Journal 39 (2008), 45-69.
[15] Vgl. den Überblick bei: Graeme Murdock: Beyond Calvin: The Intellectual, Political and Cultural World of Europe's Reformed Churches, c. 1540-1620, Basingstoke 2004. Zusätzlich zu den Beiträgen im hier besprochenen, von Martin Hirzel und Martin Sallmann herausgegebenen Sammelband seien an neueren Fallstudien nur genannt: Heinz Schilling / Stefan Ehrenpreis: Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte der Reformierten in konfessionsvergleichende Perspektive: Schulwesen, Lesekultur und Wissenschaft (ZHF Beiheft 38), Berlin 2007; Melanchthon und der Calvinismus (Hgg. Günther Frank / Herman J. Selderhuis), Stuttgart-Bad Cannstatt 2005; Willem Frijhoff: Was the Dutch Republic a Calvinist Community? The State, the Confessions and Culture in the Early Modern Netherlands, in: The Republican Alternative: the Netherlands and Switzerland compared (Hgg. André Holenstein u.a.), Amsterdam 2008, 99-122; Mark Greengrass: The Calvinist and the Chancellor: the mental world of Louis Turquet de Mayerne, in: Francia 34 (2007), 1-24; Mark Valeri: Religion, Discipline, and the Economy in Calvin's Geneva, in: The Sixteenth Century Journal 28 (1997), 123-142.
[16] Hierzu nach wie vor: Reformierte Retrospektiven: Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des Reformierten Emder Protestantismus (Hgg. Harm Klueting / Jan Rohls), Wuppertal 2001; vgl. neuerdings: Stefan Laube: Calvinistische Splitter in der deutschen Reformationserinnerung zwischen Union (1817) und Calvin-Jubiläum (1909), in: Archiv für Kulturgeschichte 91 (2009), 161-191.
[17] Sober, Strict, and Scriptural: Collective Memories of John Calvin, 1800-2000 (eds. Johan de Niet / Herman Paul / Bart Wallet) Leiden / Boston / Tokyo 2009.

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