Eric Kurlander: The Price of Exclusion. Ethnicity, National Identity, and the Decline of German Liberalism, 1898-1933 (= Monographs in German History; Vol. 10), New York / Oxford: Berghahn Books 2006, X + 387 S., ISBN 978-1-84545-069-4, GBP 50,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Albin Gladen / Piet Lourens / Jan Lucassen u.a. (Hgg.): Hollandgang im Spiegel der Reiseberichte evangelischer Geistlicher. Quellen zur saisonalen Arbeitswanderung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Münster: Aschendorff 2007
Rudolf Schlögl: Alter Glaube und moderne Welt. Europäisches Christentum im Umbruch 1750-1850, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2013
Heiner Grunert: Glauben im Hinterland. Die Serbisch-Orthodoxen in der habsburgischen Herzegowina 1878-1918, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016
Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts kannte verschiedene Erscheinungsformen. Eric Kurlander unterscheidet eine universalistische und eine völkische Tendenz. Erstere sieht er in Großbritannien, Frankreich, den USA sowie teilweise Italien und Südwestdeutschland, letztere in Nord- und Ostdeutschland, Österreich, Polen, Russland und auf dem Balkan realisiert. Die völkische Spielart des Liberalismus ist Thema seiner Untersuchung, für die Kurlander drei regionale Fallstudien realisiert. In zwei Querschnitten (1898 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und für die Zeit der Weimarer Republik bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten) analysiert er Aufstieg und Abstieg des Liberalismus in Schleswig-Holstein, Niederschlesien und dem Elsass. Alle drei Regionen lagen am Rand des Deutschen Reichs, sie waren konfessionell klar zuzuordnen (Schleswig-Holstein zu 90 %, Schlesien zu 60 % protestantisch, Elsass zu 80 % katholisch) und sie hatten ethnische bzw. nationale Konflikte (Dänen, Polen, Franzosen).
In Schleswig-Holstein setzten sich Liberale für die Gleichberechtigung der dänischen Minderheit ein. Dabei war die "stammesmäßige" Nähe zu den Deutschen ausschlaggebend, wohingegen ein kultureller Antisemitismus führender völkischer Publizisten zu verzeichnen war. Im Ersten Weltkrieg setzten sich die Liberalen im Norden für eine Annexionspolitik ein. In der Weimarer Republik gewann in Schleswig-Holstein ein völkischer Liberalismus die Oberhand, verbunden mit einem starken Antisemitismus. Die bereits im Kaiserreich missglückte Versöhnung eines ethnischen Nationalismus mit einem Regionalbewusstsein und der Demokratie führte zum Niedergang der liberalen Parteien, deren Wähler sich zum größten Teil den Nationalsozialisten anschlossen.
In Schlesien verbanden nach 1890 die bürgerlichen Parteien konservativer und liberaler Couleur soziales Interesse mit rassistischen bzw. antisemitischen Anschauungen. Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien die Sozialdemokratie als die bessere Alternative, zumal die Kolonialpolitik den ländlichen Mittelstand eher in die Arme der völkisch-nationalen Rechten trieb. Gegen Dieter Langewiesche und James Sheehan arbeitet Kurlander heraus, dass es eher diese ideologischen Spaltungen als politische und ökonomische Ursachen waren, die im Unterschied zu Schleswig-Holstein zu einem stetigen Niedergang des Liberalismus in Schlesien führten. Doch selbst auf dem Tiefpunkt vor dem Ersten Weltkrieg gelang es den Liberalen noch, die Hälfte der schlesischen Wahlbezirke zu erringen. Durch ihre enge Verflechtung mit dem jüdischen Milieu und dem Kapitalismus des freien Markts sowie ihre Offenheit für soziale Reformen konnten sie die völkischen Tendenzen noch in Zaum halten. Doch dieser Universalismus hielt nur bis zur Wirtschaftskrise, als eine desillusionierte Mittelklasse sich für die völkische Variante entschied und den freien Fall des Liberalismus in Schlesien vorbereitete.
Die Liberalen im Elsass waren nach der Reichsgründung republikanisch, jedoch nicht nationalistisch und schon gar nicht völkisch eingestellt. Gerade die protestantische Mittelklasse stand treu zu den liberalen Parteien. Im Unterschied zu den anderen untersuchten Regionen kann Kurlander feststellen, dass es im Elsass die völkischen Tendenzen waren, welche die unterschiedlichen Parteien der Provinz zu einer konzertierten Verteidigung republikanischer Werte einte. Auch nachdem das Elsass aufgrund des Versailler Vertrags wieder an Frankreich gekommen war, hielt die Zurückhaltung gegenüber völkischen Ideologien an. Noch 1932 konnte eine "Weimarer Koalition" gebildet werden. Im Unterschied zu Schleswig-Holstein und Schlesien, wo völkisch-nationale und partikularistische Ideologien zum Zusammenbruch des Liberalismus führten, meint Kurlander für das Elsass konstatieren zu können, dass der republikanische Partikularismus half, den Liberalismus zusammen zu halten.
Kurlanders Fazit aus den untersuchten drei Regionen lautet: Der Liberalismus im Deutschen Reich und in der Weimarer Republik scheiterte am mangelnden Konsens über Inhalt und Zweck des deutschen Staatswesens. Die Republik war nur ein Zielpunkt neben vielem anderen, nämlich den ethnischen, rassischen, religiösen und regionalen Partikularismen. Weil die Liberalen im Elsass, auch aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit zu Deutschland nach 1919, die "Volksgemeinschaft" über den Rechtsstaat setzten, konnten sie den Niedergang ihrer Parteien verhindern. In Schleswig-Holstein und Schlesien ging der Liberalismus im Nationalsozialismus auf.
Der Beitrag des amerikanischen Historikers ist quellenmäßig bestens fundiert. Er macht von neuem deutlich, wie sehr regionale Besonderheiten für die Entstehungsgeschichte des Dritten Reiches zu beachten sind. Dabei lohnt es sich, bis in die Epoche des Kaiserreichs mit seinen vielfältigen geistigen Strömungen zurückzugehen. Hier liegen die Wurzeln für die Wegbereitung der völkisch-rassistischen Ideologien des 20. Jahrhunderts.
Joachim Schmiedl