Andreas Klinger / Hans-Werner Hahn / Georg Schmidt (Hgg.): Das Jahr 1806 im europäischen Kontext. Balance, Hegemonie und politische Kulturen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, VIII + 394 S., ISBN 978-3-412-19206-8, EUR 39,90
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Matthias Klöppel: Revolution und Reichsende. Der Transformationsprozess von 1789 bis 1806 im Spiegel ausgewählter Leipziger Periodika, Wiesbaden: Harrassowitz 2019
Erich Donnert: Antirevolutionär-konservative Publizistik in Deutschland am Ausgang des Alten Reiches. Johann August Starck (1741-1816), Ludwig Adolf Christian von Grolman (1741-1809) und Friedrich Nicolai (1733-1811), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2010
Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter, Stuttgart: J.B. Metzler 2020
Joachim Bauer / Olaf Breidbach / Hans-Werner Hahn (Hgg.): Universität im Umbruch. Universität und Wissenschaft im Spannungsfeld der Gesellschaft um 1800, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2010
Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München: C.H.Beck 2018
Gonthier-Louis Fink / Andreas Klinger (Hgg.): Identitäten. Erfahrungen und Fiktionen um 1800, Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2004
Der vorliegende Band basiert auf einer Tagung des SFB 482 "Ereignis Weimar-Jena um 1800" zum 200. Jahrestag der Schlacht bei Jena und Auerstedt. Einführend gibt Hans-Werner Hahn einen Überblick über die vielfältigen Implikationen des Ereignisses, dessen Bedeutung für die Zeitgenossen evident war. Hahn erscheint die Schlacht zudem als ein Wendepunkt, da "Napoleon [...] begonnen hatte, seine imperialen Ansprüche zu überdehnen und [...] selbst zur Erosion seiner Machtbasis" beitrug (6). Gleichwohl wurde die Modernisierungspolitik, auf die viele Deutsche zunächst große Hoffnungen setzten, beschleunigt (9).
Der Band ist in vier Abteilungen gegliedert. Die Rubrik "Internationale Beziehungen und Diplomatie" eröffnet Heinrich Steiger mit einem Beitrag über Völkerrecht und Wandel der Internationalen Beziehungen. Ende des 18. Jahrhunderts geriet auch das Völkerrecht in eine Krise. Sie brach mit der Französischen Revolution aus, welche die naturrechtlichen Ideen in einer neuen Ordnung praktisch werden lassen wollte, und wurde fortgeführt durch Napoleon, der versuchte, gegen die überkommene Ordnung ein Hegemonialsystem zu errichten; beides scheiterte. Der Beitrag bietet eine frappierende Erklärung für die Überlebensunfähigkeit der kleineren Territorien als "beschränkte Völkerrechtssubjekte" (40, 43). Seine Bewertung, der Krieg nahm um 1800 "Frühformen eines modernen totalen Krieges" an (48), bietet Stoff für weitere Diskussionen.
Volker Sellin fragt "Gleichgewicht oder Konzert?". Nach 1815 suchte sich Europa durch drei politische Strategien abzusichern: Gleichgewicht, Konzert und Legitimität (53). Paul W. Schroeders Theorem der "balance of rights, satisfactions, and responsibilities" wird in diesem Kontext ebenso thematisiert wie Wolfram Pytas Interpretation des Wiener Kongresses als Grenzscheide zwischen Mächterivalität und Mächtekooperation. Volker Sellin demonstriert jedoch, dass der institutionelle Rahmen schon Ende 1822 an der Frage der Intervention zerbrach.
Der zweite Block des Bandes ist der napoleonischen Hegemonie gewidmet. Etienne François untersucht "das Napoleonische Hegemonialsystem". Die erste Etappe orientierte sich an zwei Leitgedanken: Stärkung der Oberherrschaft Frankreichs und Erweiterung des französischen wirtschaftlichen Einflussbereichs. Die zweite Etappe (1805 bis 1807) war gekennzeichnet durch die Wiederaufnahme des Krieges und die Siege über die drei kontinentalen Großmächte. Ihren Abschluss fand sie im Bündnis mit dem Zaren in Tilsit 1807. Die letzte Etappe umfasst die Zeit bis zum Bündnisbruch mit Russland 1812. Wie Hahn betont François, dass der Zerfall des napoleonischen Europa sich parallel zu seiner Erweiterung vollzog. Dennoch wurden erst im November und Dezember 1813 die Meldungen über die Störungen des esprit public zahlreicher.
Die Schlacht und ihre Folgen behandelt auch Tim Blanning. Napoleons Demütigung der alten Dynastien habe 1813 zum Abfall seiner Vasallen geführt. Seit 1808 sei der Krieg nur noch zu Gunsten der Familie Bonaparte geführt worden (97). Am Ende habe Napoleon auch das Interesse an seiner Familie verloren.
Georg Schmidt hat sich die diffizilste Fragestellung vorbehalten. Er betrachtet Deutschland 1806 unter den Gesichtspunkten staatlicher Zäsur und nationaler Kontinuität. Die Zeitgenossen teilten sich in zwei Lager. Die einen sahen den Rheinbund als Fortsetzung der Reichsnation, andere wähnten auch die deutsche Nation verloren. Schmidt führt in diesem Kontext einen neuen Begriff ein, das "ABC-Reich - Austria, Borussia, Corpus Principum Germanorum" (104). Sein Reiz liegt in seiner Prägnanz. Neuere Forschungen bestätigen überdies Schmidts Resümee, "mächtigere Reichstände [...] strebten zwar [...] völkerrechtliche Souveränität an, nicht jedoch die Auflösung des Reichs" (105).
Dieter Langewiesche fragt nach der Tradition des zusammengesetzten Staates im 19. Jahrhundert. Er beginnt mit einer Wertung: "Das Jahresdoppel 1806/1813 besetzt im deutschen Geschichtsbild einen mythischen Ort" (123). Daran schließt eine Geschichte des Begriffs "composite state" an. Langewiesche interpretiert die "kleinstaatliche Massenkatastrophe" zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Ausdruck des zentralistischen Zeitgeistes. Auch Langewiesche schlägt einen Begriff vor: "Föderativnation". Er soll die Brücke zur Nationalbewegung des 19. Jahrhundert bilden, deren Forderung nach nationaler Einheit nicht mit der nach einem einheitlichen Nationalstaat gleichsetzt werden darf (132 ).
Durchweg interessant sind die Ausführungen von Michael North über die Auswirkungen der Kontinentalsperre, welche diesen Teil des Bandes beenden. Der industrielle Schwerpunkt verlegte sich von den Küsten ins Binnenland. Nicht nur die Verbündeten Napoleons unterliefen die Kontinentalsperre, Napoleon selbst hebelte das System durch die Erteilung von Lizenzen gegen Geld aus.
Die dritte Abteilung des Bandes behandelt die Zäsur 1806 in Hinblick auf politische Kulturen. Hier untersucht eingangs Jörn Leonhard das Verhältnis von Außenpolitik und Öffentlichkeit seit 1792. Seiner These, seit dem letzen Drittel des 18. Jahrhunderts "änderte sich auch das Verhältnis" ist nicht zu widersprechen. Ein Blick auf die frühere Publizistik zeigt jedoch, dass der gouvernementale Appell an eine breitete Öffentlichkeit zur Legitimation längst herkömmlich war.
Spannend sind die Ausführungen von Horst Carl. Die Präsenz des höfischen Zeremoniells an den Napoleonidenhöfen steht nämlich quer zur Vorstellung vom Durchbruch der Moderne. Überzeugend führt Carl vor, wie die Dynasten Europas voll Spannung auf die Napoleonidenhöfe blicken. Die Imitation des neuen Hofstils führte zu einer Renaissance des Hofes quer durch Europa.
Napoleon nutzte unterschiedliche Legitimationsmuster. So versuchte er auch, den Ruhm "Friedrich des Großen" auf sich zu beziehen. Diese "Symbolpolitik nach Iéna" stellt Thomas Biskup vor. Ein großes Thema behandelt auch Andreas Klinger mit der "Krise des deutschen Kosmopolitismus". Die Anbindung der Idee eines Universalstaats an Napoleon geriet zunehmend in Widerspruch zu den Ideen der Aufklärung. Von dieser Diskreditierung erholte sich der Begriff nicht mehr.
Fatal waren die Tendenzen der Epoche auch für die Rechte der Frauen, wie Siegrid Westphal nachweist. Der Code Napoleon gilt als Ausdruck der Moderne, behandelte die Frauen aber rigider als die deutschen Kodifikationen, bis hin zur grundsätzlichen rechtlichen Handlungsunfähigkeit der Frau. Da Männer aus ihrer Verantwortung für uneheliche Kinder entlassen wurden, könnte man das Ergebnis als staatsgarantierten Patriarchalismus bezeichnen (239).
Gerd Krumeich stellt in einem hochinformativen Beitrag die Schlacht in der Geschichtsschreibung vor. Deutlich ist das Urteil eines liberalen Historikers wie Johann Gustav Droysen, der die "Prinzipienlosigkeit" der auswärtigen Politik Preußens beklagte, die zum Untergang des Reiches geführt und die eigene Niederlage verschuldet habe (256).
Die letzte Abteilung des Bandes widmet sich dem "Ereignisraum Weimar-Jena" und beginnt mit einem sensationellen Beitrag Gerhard Müllers, der die Behauptung, die erste Sachsen-Weimar-Eisenachische Konstitution vom 20. September 1809 sei nicht in Kraft gesetzt worden (Fritz Hartung), widerlegt. Die gesamtständische Deputation trat vielmehr bis 1816 alljährlich zusammen; alle Landesgesetze gingen durch ihre Beratungen. Die Konstitution wurde aber nie publiziert, so dass man von einem "geheimen Parlamentarismus" sprechen kann (273). Durch Vereinigung der Stände in einer gemeinsamen Landschaftsdeputation gelang es, altständische Verhältnisse zu frühparlamentarischen Strukturen umzuformen.
Klaus Ries identifiziert die Kriege von 1806 und 1813 als entscheidende Impulsgeber für den Aufbruch Deutschlands in die Moderne. Dies gelte insbesondere für das Entstehen der neueren Nationalbewegung, die von einem "politischen Professorentum" getragen wurde. Ausgelöst worden sei sie durch den Politisierungsprozess der Französischen Revolution. Ideengeschichtlich habe sich ein Umschlag vom Universalismus zum Nationalismus vollzogen. Fichtes Reglementierung infolge des Atheismus-Streits sei der "erste Fall von staatlicher Maßreglung eines modern denkenden politischen Professors in Deutschland" gewesen (281). (Das Schicksal von August Ludwig Schlözer und anderer früher Reglementierter könnte dagegenstehen. Das hängt letztlich davon ab, wie ein "modern denkender politischer Professor in Deutschland" definiert wird.)
Einen tiefen Einblick in die zeitgenössische Philosophiegeschichte gewährt Temilo van Zantwijk. Gleichwohl bleibt der Leser etwas ratlos zurück, da "sich oft nicht zweifelsfrei sagen lässt, was eine Reaktion auf 1806 ist und was ohnehin zur Verwirklichung und Weiterentwicklung sich entfaltender philosophischer Programmatik" gehörte (288).
Marko Kreutzmann untersucht das Verhältnis von Adel, Nation und ständischer Identität im Umbruchjahr 1806 und Werner Greiling "Das Napoleonbild im Ereignisraum Weimar-Jena". Sein Resümee ist eindeutig: "Erst Ende 1813 begannen jene Stimmen [...] zu dominieren, die [Napoleon Bonaparte] bekämpfen wollten" (337). Und erst nach den "100 Tagen" wurde die Kritik an Napoleon auf Frankreich ausgedehnt. Zudem zerpflückt Greiling die Carl-August-Legende, wonach der Herzog ein Vorreiter der antinapoleonischen Konspiration gewesen sei. Dies wird jedoch in dem abschließenden Aufsatz von Alexander Schmidt zur "Politik Sachsen-Weimar-Eisenachs (1796-1813)" wieder relativiert, der betont "die antinapoleonische Haltung des Herzogs [...] ist unumstritten" (379).
Insgesamt ist die Lektüre dieses Bandes sehr gewinnbringend. Unabhängig vom Anlass kann er als Einführung in die Epoche der Beschleunigung und des Umbruchs um 1806 dienen. Wünschenswert wäre gewesen, dass jene Autoren, die explizit den Adel behandeln, definiert hätten, was sie unter "Adel" verstehen. Die hier häufiger zitierten Vertreter des jüngeren Briefadels sind sozial eher dem Bürgertum zuzuordnen. Durch die Entscheidung der Herausgeber, sich konzeptionell nicht allzu eng an Ort und Anlass des Ereignisses zu binden, wird der Band seinem Titel vollauf gerecht.
Wolfgang Burgdorf