Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen 1919-1956 (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau; 14), Osnabrück: fibre Verlag 2008, 518 S., ISBN 978-3-938400-39-5, EUR 35,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
R. M. Douglas: Ordnungsgemäße Überführung. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, München: C.H.Beck 2012
Reinhold Weber: Bürgerpartei und Bauernbund in Württemberg. Konservative Parteien im Kaiserreich und in Weimar (1895-1933), Düsseldorf: Droste 2004
Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf: Droste 2003
Mit der Abstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg 1921 wurde das Land an der Oder zu einem Zankapfel zwischen Deutschland und Polen. Fast 60 Prozent votierten für den Verbleib beim Deutschen Reich. Das Ergebnis war offensichtlich nur dadurch zu erklären, dass auch viele polnischsprachige Oberschlesier sich für die Zugehörigkeit zu Deutschland entschieden - trotz der noch im kollektiven Gedächtnis der Region verankerten Erinnerung an die antikatholische Politik Preußens im Kulturkampf der Bismarckzeit. Den auf die Abstimmung folgenden (dritten) polnischen Aufstand schlugen deutsche Freikorps zwar zurück, doch auf Druck vor allem der in Oberschlesien militärisch präsenten französischen Siegermacht wurde die Provinz 1922 zwischen Deutschland und Polen geteilt. Nicht diese militärischen und politischen Kämpfe der Jahre 1919 bis 1921/22 stehen aber im Mittelpunkt der Studie von Haubold-Stolle, sondern die in beiden Ländern bald darauf einsetzende Mythisierung der Erinnerung an die dramatische Zeit der Aufstände und der Volksabstimmung.
Entstanden ist eine bemerkenswerte Arbeit zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, ein Stück "entangled history", das zeigt, dass eine rein nationalgeschichtliche Betrachtungsweise oft nicht ausreicht. In den einführenden methodischen Überlegungen wird der Konstruktionscharakter von Nationen - gegen den in einer Fußnote zitierten Miroslaw Hroch (16) - vielleicht etwas sehr kulturalistisch betont. Doch auch wem nicht vollends einleuchtet, dass Oberschlesien ein Paradebeispiel dafür sei, "wie Nationen diskursiv aufgebaut werden müssen, bevor sie als Entitäten wirksam werden konnten und können" (15), wird die auf einen breiten Quellenkorpus gestützte Studie in ihren empirisch dichten Teilen mit Gewinn lesen.
Nach einem hinführenden Kapitel zur Frage der nationalen Zugehörigkeit Oberschlesiens und zur deutschen und polnischen Abstimmungspropaganda in der Region 1919 bis 1921 folgen Teile über den "doppelten Mythos", d.h. dessen wechselseitige politische Mobilisierung während der Zwischenkriegszeit, dann über den "suspendierten Mythos" in der Zeit von Diktatur, Krieg und Besatzung sowie schließlich über die "Neuinszenierung der Mythen" in der Nachkriegsepoche. Zunächst zeigt die Studie auf, wie in dem beim Reich gebliebenen Oberschlesien nach 1921 das Gedenken an die Abstimmung als "Beweis der deutschen Treue Oberschlesiens" fast parteiübergreifend zum gesellschaftlichen Konsens wurde. Zwar dominierte auch in dieser Frage die stärkste politische Kraft im "Land unterm Kreuz", das katholische Zentrum, doch überwog selbst bei Sozialdemokraten und Kommunisten die nationale Erinnerung, der Ruf nach Grenzrevision, um die immer wieder beschworene "blutende Wunde" zu schließen.
Auf der anderen Seite der neuen Grenze wurden unter dem 1926 zum Woiwoden ernannten Piłsudski-Parteigänger Michał Grażyński die Aufstände nach dem Weltkrieg als Wunder einer heroischen nationalen Wiederauferstehung des polnischen Oberschlesien erzählt. Mit der Kennzeichnung der Deutschen als Erzfeinde Polens konnte nicht zuletzt von den wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten der Provinz abgelenkt werden. Unter dem "piastisch" orientierten Grażyński wurde 1927 auch der "Marsch an die Oder" eingeführt, den bewaffnete ehemalige Aufständische durchführten, um polnische Gebietsansprüche auf das Oppelner und Teschener Schlesien zu dokumentieren.
Wie Haubold-Stolle herausarbeitet, ist die Parallelität der Konstruktion der Oberschlesien-Mythen augenfällig. Den nationalen Parteien auf beiden Seiten ging es darum, durch die Überhöhung des Sterbens für das eigene Volk neue "Helden" im Wettkampf um Oberschlesien zu gewinnen. Wie stark deutsche und polnische Schlesien-Lobbyisten aufeinander bezogen waren und sich gegenseitig beobachteten, zeigte sich z.B., als die Deutschen auf die Gründung der großen Śląsk-Bibliothek in Kattowitz 1927 mit der Gründung einer eigenen Schlesien-Bibliothek in Ratibor antworteten. Ein weiteres Beispiel für dieses Phänomen ist der regelrechte "Rundfunkkrieg" der 1920er Jahre zwischen dem 1925 errichteten Sender Gleiwitz und dem 1927 entstandenen polnischen Pendant in Kattowitz. Der später von den Nationalsozialisten fingierte polnische Überfall auf den Sender Gleiwitz 1939 ist im Übrigen auch vor dem Hintergrund dieses älteren "Senderkrieges" zu sehen.
Nach der faktischen Annexion ganz Schlesiens durch Polen 1945 seien die historischen Mythen beider Seiten, wie Haubold-Stolle argumentiert, weiterhin eng aufeinander bezogen geblieben, ja sie hätten sich sogar wechselseitig bestärkt. In Polen wurden die Aufstände nunmehr als Vorgeschichte der territorialen und politischen Veränderungen von 1945 dargestellt. Die Kommunistische Partei konnte sich so als Vollstreckerin des wahren Willens der oberschlesischen Aufständischen präsentieren und ihren in den neuen Westgebieten besonders ausgeprägten Personalmangel durch Kooperation mit nationaldemokratischen Anhängern des alten Westgedankens kompensieren. Die dem polnischen Mythos der "wiedergewonnenen Westgebiete" von landsmannschaftlicher Seite in der Bundesrepublik Deutschland entgegengesetzte Erzählung von einem gleichsam eh und je lupenrein deutschen Oberschlesien zementierte paradoxerweise in der polnischen Gesellschaft eben den Mythos, den sie bekämpfen wollte.
Einige andere Bewertungen der Arbeit sind weniger überzeugend, etwa die Einschätzung des späteren CDU-Bundesvertriebenenministers Hans Lukascheck. Über den heißt es, er sei ein "deutscher Nationalist" gewesen, während gleichzeitig erläutert wird, er sei den polnischen Oberschlesiern gegenüber nicht aggressiv aufgetreten, sondern habe sich als Oberpräsident von Oberschlesien 1929 besonders für die Wahrung der polnischen Minderheitenrechte eingesetzt. Dass zudem die deutsche Oberschlesien-Darstellung der 1920er Jahre den nationalsozialistischen Überfall auf Polen vorbereitet habe, scheint doch sehr stark ex post vom Wissen um den realen, aber eben nicht zwingenden Verlauf der späteren Geschichte geprägt zu sein. Insgesamt aber ist hervorzuheben, wie sehr sich die Verfasserin darum bemüht, bei diesem komplexen Thema beiden Seiten gerecht zu werden. So zeigt die wichtige Arbeit auch, wie schwierig dieses Unterfangen nach wie vor ist.
Manfred Kittel