Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen: Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert (= FRIAS Rote Reihe; Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, 128 S., ISBN 978-3-525-32300-7, EUR 14,90
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Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hgg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen: Wallstein 2001
Anzuzeigen ist ein schmaler Band, der als Vorstudie zu einem größeren Werk der beiden Autoren zu verstehen ist. Er erscheint in der Roten Reihe des Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS). Dort sollen Essays veröffentlicht werden, die aus Vorträgen und Diskussionen am Institut hervorgegangen sind und sich mit der vergleichenden europäischen Geschichte seit dem 18. Jahrhundert befassen. Thema des vorliegenden ersten Bandes sind "Empires" in Europa und ihr Verhältnis zum Modell des Nationalstaats im 19. Jahrhundert. Unter Empire verstehen die Autoren multiethnische Großreiche, in denen eine supranationale Herrschaft über verschiedenartige Gebiete ausgeübt wurde; in diesen Reichen herrschten unterschiedliche Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Peripherien und dem Zentrum, und die Empires besaßen keine festen, sondern weiche, bewegliche Grenzen. Konkret behandelt werden das Britische Empire, das russische Zarenreich, die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich. Zeitlich konzentriert sich die Argumentation auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Auseinandersetzung der Großreiche mit nationalstaatlichen Modellen den Autoren zufolge immer drängender wurde.
Im Einleitungskapitel erläutern Leonard und von Hirschhausen ihr allgemeines historiographisches Anliegen. Sie wollen europäische Geschichte nicht auf eine Geschichte der modernen Nationalstaaten, in der die Großreiche Europas lediglich als Phänomene des Niedergangs überkommener Herrschaftsorganisation erscheinen, reduziert sehen. Ihnen geht es vielmehr darum, historische Alternativen zur politischen Ordnungsform des Nationalstaats ins Bewusstsein zu bringen. Ihre Untersuchung der Empires konzentriert sich dabei auf die "Übernahme nationaler Modelle" (13) und ihre Umsetzung durch die genannten Großreiche. Drei solcher Handlungsmuster identifizieren sie: Monarchie als Loyalität stärkendes Ritual, der Bevölkerungszensus als bürokratisches Herrschaftsmittel und schließlich die Wehrpflicht als Teil der Integration sichernden Zwangsmittel.
In folgenden drei Hauptkapiteln werden diese drei Handlungsfelder nacheinander in ihren Grundzügen vorgestellt, wobei die Entwicklungen in den genannten Großreichen jeweils getrennt erläutert werden und vergleichend ein kurzes, zusammenfassendes Fazit gezogen wird. An einigen Stellen wird auf die gegenseitige Beobachtung und selektive Übernahme zwischen den Reichen hingewiesen. Wer eine kompetente Darstellung zur symbolischen Funktion der Monarchie in den Empires, zu Problemen der Bevölkerungszählung in multiethnischen Großreichen oder zur Entwicklung der Wehrpflicht sucht, ist hier gut bedient. Der Band eignet sich in eingeschränktem Maße auch für Seminare als Einstieg in die Diskussion ausgewählter Probleme vergleichender Empire-Forschung, sofern sich das Interesse nicht auf außereuropäische Gebiete erstreckt, von denen nur Indien Berücksichtigung findet. Die relevante neueste Forschungsliteratur zu den einzelnen Reichen ist für die drei ausgewählten Felder ausgewertet und in den Anmerkungen verzeichnet. Vereinzelt wird auch auf archivalische Quellen rekurriert.
Ein knappes Resümee schließt den Band ab: Anspruch und Wirklichkeit imperialer Herrschaft mit Hilfe der untersuchten Integrationsmittel klafften an der Wende zum 20. Jahrhundert immer weiter auseinander. Die Instrumente monarchischer Rituale, statistischer Kategorisierung und militärischer Verpflichtung wurden von den beherrschten Reichsmitgliedern für eigene Zwecke in Anspruch genommen und gegen die Metropole gewandt. "Nationalisierende Empires" (107) waren nicht grundsätzlich dem Untergang geweiht, doch ihre prekäre Balance zwischen Integration und vielfältiger Koexistenz innerhalb eines Reichsverbands geriet - so der Ausblick der Autoren - unter der Belastung des totalen Krieges zunehmend aus dem Gleichgewicht. Ob diese Folge außer für Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich auch für das Britische Empire zutrifft, bliebe meines Erachtens genauer zu bestimmen. Beim britischen Empire-Projekt handelte es sich aufgrund seiner globalen Dimensionen wohl um ein Unternehmen eigener Art; gerade hier wurde die Mischung aus imperialen und nationalstaatlichen Elementen, auf die Leonard und von Hirschhausen ihr Augenmerk richten, flexibel und erstaunlich nachhaltig gehandhabt.
Die Autoren plädieren mit ihrem Band zu Recht dafür, europäische Geschichte nicht lediglich als vergleichende Geschichte der Nationalstaaten zu schreiben, sondern die Großreiche als zum Kern einer solchen Geschichte gehörig zu betrachten. Eine differenzierende Darstellung wird daher beide politische Ordnungsmodelle, ihre Verbindungen und Modifizierungen einbeziehen müssen. Ob die ausgewählten drei Handlungsfelder und Instrumente einem "nationalen" Modell entnommen wurden, bliebe meines Erachtens für die monarchische Ritualpolitik, aber auch für die anderen Bereiche gründlich zu diskutieren. Die Autoren kündigen eine größere Monographie an (127). Die Leserinnen und Leser müssen sich daher auf weiterführende Einsichten gedulden. Zu hoffen ist, dass außer den hier bereits selektiv vorgestellten Handlungsfeldern der Monarchie, Verwaltung und Militär auch Religion und Handelswirtschaft Berücksichtigung finden werden. Die Außenbeziehungen der Empires und die internationale Politik wären ein weiterer Bereich, der sich ebenfalls eignet, um die Funktionsweise der Großreiche und Nationalstaaten vergleichend zu studieren. Das würde bedeuten, auch die permeablen Grenzräume und sich überschneidenden imperialen Sphären, wie etwa Ägypten, Südosteuropa und das Gebiet von Persien bis Afghanistan in den Blick zu nehmen. Das politische Verhältnis zu den "imperialisierenden Nationalstaaten" (107) könnte dann analysiert werden. Auch könnte schließlich von den imperialen Modellen, welche die Zeitgenossen diskutierten, die Rede sein. Man darf also gespannt sein.
Johannes Paulmann