Jörn Leonhard: Über Kriege und wie man sie beendet. Zehn Thesen, München: C.H.Beck 2023, 208 S., ISBN 978-3-406-80898-2, EUR 18,00
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Der russische Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat Expertinnen und Experten unterschiedlichster Disziplinen veranlasst, sich zu Wort zu melden. Zum einen bedienten sie damit den Wunsch vieler Medien und interessierter Bürgerinnen und Bürger um sachkundige Auskunft zur Genese, dem möglichen Verlauf und den eventuellen Folgen eines Kriegs in der Mitte Europas, den nach den Umbrüchen von 1989/90 und den anschließenden vertraglichen Vereinbarungen über ein nun beginnendes, demokratisches und friedliches Miteinander eigentlich niemand mehr erwartet hatte. Zum anderen war aber auch unverkennbar, dass viele diese Gelegenheit zur eigenen Profilierung im Kampf um Deutungshoheiten und öffentliche Aufmerksamkeit nutzen wollten. Ob das, was sie dann als Antworten anboten oder gar der Politik als Handlungsempfehlung regelrecht aufzudrängen versuchten, immer der Sache gerecht wurde, kann in vielen Fällen bezweifelt werden. Häufig überholte die Wirklichkeit Einschätzungen und Prognosen schneller als erwartet.
Umso wohltuender ist dieses Büchlein Jörn Leonhards. Dem Freiburger Historiker, ausgewiesen durch voluminöse Werke zum Ersten Weltkrieg und dessen Folgen, geht es nicht darum, sich an dem täglichen Meinungsstreit in Talkshows und Sondersendungen zu beteiligen. Er will vielmehr aus der nüchternen Perspektive des Historikers eine differenzierte Antwort auf die Frage geben, wie man Kriege beendet. Der Blick in die Geschichte liefere zwar, dies macht Leonhard gleich zu Beginn klar, "keine Blaupausen für Entscheidungen". Die Geschichte zeige aber "in einem großen Reservoir über Zeiten und Räume, welche Konstellationen warum zu welchen Ergebnissen führten" (17). Dazu gehören Verlaufsmuster und Handlungslogiken, Ambivalenzen und paradoxe Situationen. Wer dies berücksichtige, so Leonhard, werde "immunisiert gegen einfache Erklärungen, Analogien und Vergleiche".
Um dies deutlich zu machen, stellt Leonhard zehn Thesen auf, die er in zehn Abschnitten erläutert. Die Beispiele, die er dabei heranzieht, reichen von den Kriegen zwischen Athen und Sparta, Rom und Karthago, den Glaubenskriegen des 17. und den Revolutionskriegen des ausgehenden 18. über die deutschen Einigungskriege des 19. sowie die Weltkriege des 20. bis hin zu den Kriegen am Ende des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Deren Ursachen, Verlauf und Beendigung sind die Leitlinien seiner Überlegungen. "Die Natur des Krieges", so heißt es gleich zu Beginn, "bestimmt auch sein Ende" (Kap. I). Aber, so warnt er anschließend, "echte Entscheidungsschlachten sind selten" (Kap. II). Dies habe mit großer Deutlichkeit bereits der Deutsch-Französische Krieg gezeigt, der eben nicht nach dem deutschen Sieg von Sedan 1870 vorbei gewesen, sondern aus dem anschließend ein blutiger "Volkskrieg" geworden sei (41). Je länger ein Krieg dauere, desto schwieriger werde seine Kontrolle. "Faule Frieden", so Leonhards dritte These, könnten Krieg aber auch verlängern (Kap. III). Dies zeigten nicht nur manche Friedensschlüsse in der Antike, sondern auch jene zwischen Napoleon und seinen Gegnern oder die britische Appeasement-Politik der 1930er Jahre. Letztere zeige "exemplarisch" die "Probleme des 'faulen Friedens'. Er konnte aus einseitigen Konzessionen gegenüber einem Gegner entstehen, der letztlich zu keinem Frieden bereit war, egal welche weiteren Forderungen der Unterlegene oder der auf Frieden drängende Akteur auch noch zu konzedieren bereit war" (69).
Die Analogien zu aktuellen Diskussionen sind hier ebenso unverkennbar wie bei Leonhards anschließender vierter These: "Wer noch Chancen auf dem Schlachtfeld" sehe, setze den Kampf fort, solange es ginge (Kap. IV). Nicht vergessen werden sollte - die aktuellen Bezüge bleiben auch in These 5 unverkennbar -, dass "verfügbare Ressourcen" zwar den "Kippmoment von Kriegen, aber nicht unbedingt die Einsicht der Akteure" bestimmen (Kap. V). Auch wenn am Ende eines Kriegs ein Frieden stehe, lehre die Geschichte, dass nicht jeder Krieg mit einem "formalen Frieden" ende (Kap. VI). Eine andere Lehre sei, siebtens, dass es "keinen Frieden ohne Kommunikation" gäbe und dass, "wer die Besiegten" demütige, den "Frieden zum Waffenstillstand" mache (Kap. VII). Zu Recht verweist Leonhard auf die zentrale Bedeutung von Vertrauen, Empathie und Kommunikation bei der Beendigung von Kriegen im Zeitalter des politischen Massenmarkts und einer zunehmend emotionalisierten Öffentlichkeit: "Der ausgesprochene Empathiemangel" habe es 1919 in der "historischen Situation der Pariser Friedenskonferenz unmöglich" gemacht, "den Zirkel der sich gegenseitig verstärkenden Wahrnehmungen zu durchbrechen" (137). Die Wirkungen auf die deutsche Innenpolitik, aber auch die Gesellschaften anderer Verliererstaaten sei entsprechend fatal gewesen. Gleichermaßen müssten die Verantwortlichen heute begreifen, dass, so Leonhards achte These, derjenige "die Schatten eines Krieges" verlängere, der den Frieden mit Erwartungen überfordere (Kap. VIII). Seine neunte These, dass die "Arbeit am Frieden" erst beginne, "wenn die Verträge unterschrieben" seien (Kap. IX), mag eine Binsenweisheit sein, sie ist aber, wie die Vergangenheit ebenso zeige wie die anhaltenden Probleme nach den Verträgen zur Beendigung der Jugoslawienkriege der 1990er Jahre, ein wichtiger Punkt, den es immer im Auge zu behalten gälte, wenn man wirklichen Frieden wolle. "Einen stabilen Frieden ohne den Anspruch auf Gerechtigkeit", auch dies bleibt höchst bedeutsam im Hinblick auf Überlegungen zur Beendigung des Ukrainekrieges wie des Nahostkonflikts, "können wir uns heute nicht mehr vorstellen" (171). "Aber", so schreibt Leonhard zu Recht, "dieser historisch entstandene Anspruch bedeutet auch eine enorme Hypothek jeder Friedensgestaltung, wenn man sie als einen langfristigen mentalen Prozess versteht" (171). Leonhards zehnte These, überschrieben mit "paradoxe[n] Enden", knüpft daran in gewisser Hinsicht an. Mit dieser unterstreicht er die historische Erfahrung, dass "nicht jeder Sieg [...] ein Gewinn" sei, und dass "manche Niederlage" auch zur "Chance" werden könne (Kap. X). Leonhard weist auf die in diesem Paradoxon liegenden Chancen hin, die sich denjenigen bieten würden, die sich "langfristig von solchen Narrativen" wie "Sieg" oder "Niederlage" befreiten, indem sie "die eigene Geschichte nüchtern" annehmen, diese kritisch aufarbeiten und mit ihren "Belastungen konsequent" brechen würden, "ohne historische Kontinuität zu leugnen" (186).
In der Sache dürfte Leonhard hier zwar recht haben, heute aber viele mental überfordern, da er einen Sprung über den eigenen Schatten einfordert, den zu wagen die meisten in den aktuellen Konfliktregionen, aber auch darüber hinaus, schlichtweg nicht machen wollen. Sie sind, nicht zuletzt unter dem Einfluss moderner, rückwärts gerichteter Propaganda, zu sehr alten Vorstellungen von Sieg, Niederlage, nationaler Ehre und - vermeintlich - historisch gerechtfertigten Ansprüchen verhaftet, als dass sie bereit wären, notwendige Kompromisse einzugehen.
Manche Leserin, mancher Leser mag enttäuscht sein, dass Leonhard auf ein zusammenfassendes Kapitel verzichtet, in dem er aus der Geschichte abgeleitet konkrete Vorschläge für einen Weg zum Frieden in aktuellen Konflikten macht. Aber dies hält er aus der Perspektive des Historikers, wie er bereits zu Beginn erläutert, auch für nicht angemessen. Was Leonhard aber mit seinem an britische oder amerikanische Vorbilder anknüpfenden großen Essay bietet, ist dennoch ein Meisterstück: Er führt allen, die es wissen wollen, aber auch jenen, die es in ihren verantwortlichen Stellungen wissen sollten, anhand zahlreicher historischer Beispiele die vielen Faktoren vor Augen, die es zu berücksichtigen gilt, wenn es darum geht, Kriege zu beenden. Damit verknüpft ist zugleich die eindringliche Mahnung vor vorschnellen, falschen Vergleichen und unangemessenen Entscheidungen sowie überzogenen Erwartungen und Forderungen. Der Rezensent kann Jörn Leonhard zu diesem in jeder Hinsicht gelungenen Essay nur gratulieren.
Michael Epkenhans