Ulrike von Hirschhausen / Jörn Leonhard (Hgg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen: Wallstein 2001, 456 S., 2 Abb., ISBN 978-3-89244-479-4, EUR 34,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Das ungebrochene Interesse an dem Problemfeld Nation und Nationalismus hat in der wissenschaftlichen Reflexion eine ganze Reihe neuer innovativer Fragestellungen formuliert, Methoden mit vor allem kulturgeschichtlichem Anspruch ausprobiert und sich zunehmend mit einigem Erfolg auch des historischen Vergleichs bedient als Mittel zur tieferen Erkenntnis und allgemeineren Fassung des Phänomens. Wenn auch alle Vergleiche regionaler Art hilfreich sind, so ist doch die Forschung bisher kaum aus dem Schatten der Kategorisierung der Nation in einen klassischen westeuropäischen und einen nachholenden, verspäteten, auf jeden Fall aber unvollkommenen und letztlich minderwertigen Nationalismus in Mittel-, Ostmittel- und Osteuropa getreten. Nun hat sich diese Kategorisierung bisher als wenig hilfreich erwiesen und muss angesichts neuer Fragestellungen und Forschungsmethoden endgültig versagen.
Der vorliegende Band ist ein mutiger und wichtiger Versuch, den West-Ost-Vergleich zum Nationalismus auf eine neue Grundlage zu stellen. Schon der Titel lässt vermuten, dass er Ausprägungsformen betont und nicht auf eine kategorische Unterschiedlichkeit abhebt. Der Band ist ein Ergebnis zweier wissenschaftlicher Veranstaltungen aus dem Herbst 2000, die dem Thema gewidmet waren. In ihrem einleitenden Aufsatz gehen die Herausgeber noch einmal bündig auf Begrifflichkeit und neueste Kontroversen dazu ein, geben damit eine gute Grundlage und weisen auf die völlig unzureichende Forschung zum Ost-West-Vergleich hin. Sie schränken ihr Vorhaben aber gleich durch den Hinweis ein, dass angesichts der Komplexität des Themas ihre Analyse eher eine symptomatische als systematische Betrachtung zulässt. Anhand von zehn Leitfragen werden die Ergebnisse des Bandes dargestellt und Desiderate formuliert. Es spricht für die Ernsthaftigkeit des gesamten Unternehmens, dass die Herausgeber ihre Ergebnisse sehr vorsichtig zusammenfassen und dafür plädieren, sich von der bisherigen Typologisierung abzuwenden und eine Differenzbestimmung des europäischen Phänomens der Nation vorzunehmen in synchroner Diversität und diachronem Wandel sowie die Nation auch in ihrer inneren Konsistenz als Pluralismus konkurrierender Deutungen zu sehen.
Der erste Abschnitt wendet sich West- und Mitteleuropa zu. Dieter Langewiesche untersucht die Nationsbildung in Deutschland im europäischen Vergleich und setzt sich kritisch mit der These von der verspäteten Nation auseinander. Er versteht die deutsche Nationsbildung insofern als Sonderweg, als sie eine Zusammenbruchsgeschichte darstellt, die als solche mit Westeuropa nichts gemein hat und eher vergleichbare Vorgänge in Ostmitteleuropa und Südosteuropa findet. Es folgen fünf Beitrage, die Großbritannien, Frankreich, Italien und die Schweiz zum Gegenstand haben und teilweise untereinander vergleichen. In zwei weiteren Abschnitten, deren Zusammenstellung und Unterscheidung nur schwer nachvollziehbar ist, widmen sich vier Beiträge der Präsentation der Nation in Ausstellungen, Festen und Denkmälern sowie der Rolle der Nation im Krieg. Der letzte Abschnitt hat schließlich Ost- und Ostmitteleuropa zum Gegenstand. Neben Beiträgen zu Ungarn, der Nationsbildung bei Tschechen und Letten und zwei Beiträgen zu Russland (Theodore R. Weeks unterscheidet zwischen Staats- und Volksnation und Andreas Renner beschäftigt sich mit der Konstruktion nationaler Identität im Zarenreich) wenden sich drei Beiträge Einzelfragen zu. Philipp Ther beschreibt Nationalisierungsprozesse in Oberschlesien als einer Region mit starker regionaler Identität und geht der Frage einer möglichen Alternative zur Nationsbildung nach. Kai Struve untersucht den Zusammenhang von sozialer Emanzipation und nationaler Identität bei den galizischen Bauern, und Ulrike von Hirschhausens Aufsatz hat Nationalisierungsprozesse im urbanen Raum am Beispiel Rigas zum Gegenstand.
Während im westeuropäischen Teil die Beiträge mit Ländervergleichen vorherrschen, deren östlichste Dimension Deutschland darstellt, bleibt es für Ostmittel- und Osteuropa dem Leser überlassen, aus den Darstellungen zu Einzelproblemen der Nationalisierung oder Regionen den Vergleich vorzunehmen. Sehen wir vom Einführungsaufsatz ab, so werden Ost- und Westeuropa eigentlich nicht verglichen. Somit entgehen die Herausgeber nicht ihrer eigenen Kritik an der Forschung, dass der Ost-West-Vergleich bisher eher additiv erfolgt ist. Insgesamt aber steht außer Zweifel, dass der Band eine gelungene und beständige Synthese zum europäischen Nationalismus darstellt und seinem formulierten Anspruch, "Europa als ganzes zu denken", nachkommt.
Ralph Schattkowsky