Georg Wagner-Kyora: Vom "nationalen" zum "sozialistischen" Selbst. Zur Erfahrungsgeschichte deutscher Chemiker und Ingenieure im 20. Jahrhundert (= Beiträge zur Unternehmensgeschichte; Bd. 28), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2009, 795 S., ISBN 978-3-515-09262-3, EUR 84,00
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Die Erfahrungsgeschichte von Technikern und Wissenschaftlern der Chemiestandorte in den Regionen Halle-Merseburg, Bitterfeld-Wolfen sowie in Auschwitz ist das Thema der Habilitationsschrift Georg Wagner-Kyoras aus dem Jahre 2000, die nun in überarbeiteter Form vorliegt. Der zeitliche Rahmen liegt im 'kurzen' 20. Jahrhundert. Wagner-Kyora spannt den zeitlichen Bogen von der Zeit des Ersten Weltkrieges bis in die 1980er Jahre der DDR, konzentriert sich jedoch vor allem auf die Phase des Nationalsozialismus und die anschließenden Jahrzehnte der DDR. Welche Bedeutung hatte der Übergang vom Nationalsozialismus zum SED-Regime für die Chemiker und Ingenieure? Inwieweit veränderten sich Mentalitäten, bildeten sich trotz Systemwandels und trotz einsetzenden Generationswechsels seit den 1960er Jahre ähnliche Identitäten, Selbst- und Fremdbilder heraus wie in den älteren Generationen? Gab es Kontinuitäten eines bildungsbürgerlichen Habitus? Und schließlich auch: Wie weit stellten sich die Chemiker und Ingenieure in den Dienst der Systeme?
Dieses Fragenbündel geht der Autor mit einer "hermeneutischen Kollektivbiographik" an, so seine Beschreibung des Instrumentariums, mit dem er die vielschichtigen politik- und mentalitätsgeschichtlichen Quellen auswertet. Wie der Titel schon zeigt, arbeitet Wagner-Kyora mit dem Begriff des "Selbst". Er gibt an, dies "als eine eher illustrative Begriffsdefinition" für das "integrative Zusammenwirken der dominierenden Identitätskonstruktionen einer Person oder eines Kollektivs" zu verstehen. Welche analytischen Vorteile dieser Begriff etwa im Unterschied zu Identität oder Selbstbild im Zusammenhang mit den Kernfragen der Studie hat, erschließt sich dem Rezensenten jedoch nicht. Generell bleiben begriffliche Unschärfen zu konstatieren, vor allem "die Chemiker" und "die Ingenieure" betreffend. Wagner-Kyora spricht fast durchgehend von "Chemikern und Ingenieuren", obwohl es sich offenkundig allein von der Betriebshierarchie her um zwei recht unterschiedliche Gruppen handelt. Wie er einleitend selbst ausführt, waren die Chemiker zumeist promoviert und genossen als Wissenschaftler ein hohes Sozialprestige. Die führenden Personen an der Werkspitze waren Chemiker, nicht Ingenieure, die ihrerseits seltener promoviert und eine "sekundäre Position" einnahmen. Ihre Tätigkeit in der Verfahrenstechnik wurde als "dienende" gegenüber der "erfindenden Wissenschaft" der Chemie angesehen (19).
Wagner-Kyoras Anliegen ist eine "kulturgeschichtliche Thematisierung von Sinndeutung auf politikgeschichtlicher Folie", ein ambitioniertes und vielversprechendes Programm, das er im Schnittfeld von acht Forschungsfeldern verortet: Bürgerlichkeit der Akademiker in der Chemieindustrie, Kontinuität und Reproduktion von Funktionseliten, unternehmenshistorische Fragestellungen (u. a. nach dem Stellenwert korporativer Forschungspraxen), die kulturwissenschaftliche Habitusanalyse, Identitätskonstruktionen in Selbst- und Fremdbildern, Stellenwert der Erinnerung, Männer- und Geschlechtergeschichte und schließlich Generationalität. Wen angesichts dieser Auffächerung die Sorge umtreibt, ob dies nicht zu viel der Zugriffe seien, der wird durch den nachfolgenden Satz besänftigt, denn Wagner-Kyora verweist darauf, dass er nicht vorhabe, seine Aussagen und Erklärungen aus den genannten Forschungsfeldern und den damit verbundenen theoretischen Ansätzen, sondern aus der Empirie abzuleiten. Er beschreitet den Weg der Induktion, die angesichts der sehr heterogenen narrativen und autobiografischen Quellen eine "monografische Textualität sui generis" hervorgebracht habe. Damit sei eine eigenständige, wenngleich "nicht immer theoretisch kongruente Historiografie" entstanden. Wagner-Kyora lässt sich nicht von bestimmten theoretischen Annahmen leiten, die er anhand des Quellenmaterials empirisch überprüft, es geht ihm nicht darum, die Empirie für eine Theorie passend zu machen, sondern lediglich die "Interferenzen zu den bestehenden Theorieangeboten aufzuzeigen." (24) Diese Vorgehensweise lässt die Studie zu knapp 800 Seiten ausufern. Die langen Schilderungen einzelner Fallbeispiele, die zusammen mit den quantitativen Auswertungen methodisch durchaus sinnvoll sind, sind in der Fülle der präsentierten Details ermüdend.
Die Gliederung folgt keinem chronologisch geordneten Aufbau. Ein solcher ist auch keineswegs zwingend, aber es verwundert doch, dass Wagner-Kyora nach dem einleitenden Überblick über die genannten acht Forschungsfelder den inhaltlichen Teil seiner Arbeit mit der Beschreibung der Arbeitsorte (Leuna- und Bunawerke) zu DDR-Zeiten beginnt, hier mit dem Chemieprogramm von 1958 einsetzt und mit einem Kapitel zum IG-Werk in Auschwitz schließt. Dazwischen sind Abschnitte zu Berufsbiografien von 1916 bis 1944 sowie jene Hauptkapitel eingeordnet, die sich mit den Selbstbild- und Identitätskonstruktionen der Chemiker und Ingenieure mit zeitlichem Schwerpunkt der nationalsozialistischen Zeit sowie der DDR bis in die1970/80er Jahre und den jeweiligen (sozial-)politischen Rahmenbedingungen und innerbetrieblichen Machtstrukturen befassen.
Leistungsorientierung, technokratische Weltsicht und bürgerlicher Habitus stellen deutliche Kontinuitäten in der Identitätskonstruktion "der Chemiker und Ingenieure" seit der Zeit des Ersten Weltkrieges dar - das Selbstbild des "Machers" entsprach dabei der Rolle dieser Berufsgruppen in der Rüstungswirtschaft des Nationalsozialismus. Die vor 1933 kollektive nationale Wertorientierung überwölbte die Ausgrenzung jener Akademikerkollegen, die ab 1933 aus "rassischen" Gründen aus ihren Positionen vertrieben wurden. Selbst die Opfer trauen - noch retrospektiv - den objektiv für die Ausgrenzung verantwortlichen Kollegen die Verfolgungstat nicht zu - so stark wirkt die kollektive Wertorientierung nach. Für die Zeit nach 1945 ist bei der "alten" Intelligenz zwar Distanz zum SED-Regime zu konstatieren, zugleich jedoch auch eine gewisse Standortloyalität. Zudem griffen Angebote, die auf den bildungsbürgerlichen Habitus zielten: Tanzveranstaltungen der betrieblichen Intelligenzbetreuung ("Intelligenzvergnügen"), die Mitgliedschaft im Tennisklub, in dem man nahezu unter seinesgleichen war. Zwar tritt seit den 1960er Jahren ein Generationswechsel ein, doch der bürgerliche Habitus wirkt auch bei der "neuen" Intelligenz identitätsstiftend. Eine elitäre Abschottung als Merkmal nach "außen" und nach "unten" sowie habituelle Elemente in der betrieblichen Kleiderordnung, die den Schlips zur Regel macht und das "Camping-Hemd" oder den "Vollbart" als Ausschlusskriterium ansieht.
Außerordentlich aufschlussreich sind Wagner-Kyoras Ausführungen im Kapitel "Auschwitz" - die "Blindstelle" der "Auschwitz-Erinnerung", die der Autor an mehreren Beispielen, darunter dem besonderen Fall eines technischen Zeichners exemplifiziert, der, aus der kommunistischen Bewegung kommend, sich der Versetzung nach dem IG-Werk in Auschwitz widersetzen will, dann jedoch nach der ihm gestellten Alternative Einberufung zur Front oder Auschwitz, letzteres vorzieht. Dieser Mann, in der DDR SED-Mitglied und später hoch dekoriert mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, behält Reste von Humanität, leistet jedoch keinen Widerstand und ist wie die übrigen etwa 460 Mitarbeiter der IG Farben in Auschwitz Teil jenes Programms "Vernichtung durch Arbeit", das zu einer Lebenserwartung der KZ-Sklavenarbeiter in Auschwitz-Monowitz von wenigen Monaten führte. Auch er, der zunächst 1950 noch seine Erinnerungen reflektiert, konstruiert jene Blindstelle "Auschwitz-Erinnerung". In seiner Auszeichnung mit dem Vaterländischen Verdienstorden wird schließlich seine Tätigkeit im IG-Werk Auschwitz überhaupt nicht mehr erwähnt - sie ist einfach getilgt und der Betreffende ein verdienter Antifaschist. Es sind derartige Passagen, die die Arbeit Wagner-Kyoras bei aller Kritik als eine Forschungsarbeit auszeichnen, die Unbekanntes zu Tage fördert und in Zusammenhänge individueller wie kollektiver Zuschreibungen und Identitätskonstruktionen stellt. Die Auswertung des äußerst heterogenen Quellenmaterials nicht zuletzt aus der Provenienz des Ministeriums für Staatssicherheit erweist sich hier als außerordentlich fruchtbar. Allerdings, so prägnant das Beispiel des technischen Zeichners für "selektierte Erinnerungen" ist, so fragt man sich dennoch erstaunt: Sind nicht "Chemiker und Ingenieure" das Thema?
Bei allem wissenschaftlichen Verdienst - die Studie leidet an einer ausufernden Präsentation, an mangelndem Mut zur Bündelung und Verdichtung sowie einer mitunter schwer lesbaren Sprache. Weniger wäre mehr gewesen. Auch beim Sach-, Personen und Ortsregister lässt sich des Guten zu viel konstatieren - welchen Wert sollen in einem Buch über Chemiker und Ingenieure Registereinträge wie "Chemiker" oder "Ingenieure" haben?
Detlev Brunner