Sarah Phillips: Yemen and the Politics of Permanent Crisis, London / New York: Routledge 2011, 167 S., ISBN 978-0-415-69574-9, GBP 9,99
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Wohin steuert der Jemen? Im Zuge der seit Monaten anhaltenden Proteste im Jemen gegen das Regime von Ali Abdullah Salih steht diese Frage im Fokus der regionalen und internationalen Debatte. Was mit friedlichen Aufständen von jungen ausgebildeten Jemeniten begann, spitzte sich zu einem Machtkampf der Eliten zu. So kam es in der letzten Zeit zu Auseinandersetzungen zwischen der Armee auf einer Seite und militanten Islamisten und Stammesverbände auf der anderen Seite. Anhand dieser Entwicklungen scheinen verschiedenen Szenarien möglich, die von einer friedlichen Lösung bis hin zu einem Bürgerkrieg und einer Somalisierung variieren. Fest steht, dass dies nur Spekulationen sind und die zukünftigen Entwicklungen unberechenbar bleiben. Die entscheidende Frage an dieser Stelle ist jedoch: Was sind die zugrundeliegenden Faktoren, die zu dieser Situation geführt haben?
Mit dieser Frage beschäftigt sich die australische Politikwissenschaftlerin Sarah Phillips in Yemen and the Politics of Permanent Crisis. Seit Jahren steckt der Jemen inmitten einer Vielzahl von Krisen, ernste wirtschaftliche und politische Probleme herrschen vor: der Rückgang der Ölreserven, Armut, zivile Konflikte, militärische Interventionen von außen, militante islamistische Bewegungen und eine Sezessionsbewegung. All dies gefährdet die Stabilität des Landes. Vor diesem Hintergrund fragt sich Phillips, warum die jemenitischen Eliten nicht die erforderlichen Maßnahmen zur Meisterung dieser Herausforderungen implementierten, um das Wohlergehen ihres Landes zu sichern und diese Krisensituation zu verhindern? Sind die Ursachen auf die politische Führung zurückzuführen, die von dieser Krise profitiert, oder existieren strukturelle Hindernisse, die den Handlungsspielraum der Eliten beschränken?
Zur Beantwortung dieser Fragen untersucht Phillips das informelle Herrschaftssystem und hier v.a. das Patronage-System unter Ali Abdallah Salih, das bereits seit 33 Jahren im Land verankert ist. Die Analyse der herrschenden Machtstrukturen und der informellen Institutionen ist in der Tat ein Schlüssel zum Verständnis der Dynamiken jemenitischer Politik. Formelle, staatliche Institutionen sind nicht in der Lage, politische Macht auszuüben, da diese in den informellen Patronage-Beziehungen begründet liegt. Daher ist es erforderlich, diejenigen Akteure zu identifizieren, welche die zentrale Rolle in diesem politischen Spiel einnehmen. Phillips legt diese Strukturen hervorragend offen, indem sie eine Einteilung politischer Akteure nach ihrer Einflussstärke vornimmt. Damit schafft sie den analytischen Rahmen zur Untersuchung der bestimmenden Strukturen und Akteure der jemenitischen Politik.
Phillips Studie beschränkt sich jedoch nicht nur auf das neopatrimoniale System, [1] sondern befasst sich mit weiteren Aspekten jementischer Politik, die einem besseren Verständnis der Kernprobleme dienen. Sie gliedert ihr Buch in sieben Kapitel und beginnt mit einer ausführlichen Darstellung der Herausforderungen, vor denen das Land steht. Von diesem Punkt aus beschäftigt sich die Autorin mit den formellen Institutionen, die trotz ihrer Ineffizienz eine wichtige Rolle dabei spielen, das Regime nach innen und nach außen zu legitimieren und mit dem Westen zu interagieren. Externe geopolitische Akteure, vor allem Saudi-Arabien und die USA, sind hier von herausragender Bedeutung. Ihre Beziehung zum Salih-Regime und ihr Einfluss auf die Erhaltung desselben wird durch Phillips Analyse abermals im vierten Kapitel herausgestellt. Kapitel drei, das das Epizentrum des Buches bildet, beschäftigt sich dann mit den informellen Herrschaftsmechanismen des Jemens. Die folgenden Kapitel fünf und sechs zielen darauf ab, die politischen Hauptakteure zu erkennen und den Umfang ihres politischen Einfluss festzustellen. Dabei fokussiert Philipps auf vier Gruppen: das Regime, das auch Stammesverbände und Militär umfasst; den Regimekern, welcher die Familie von Salih einschließt; die Regierungspartei und schließlich das Oppositionsbündnis der Parteien des Gemeinsamen Treffens.
Als bemerkenswert muss die empirische Fundierung der Studie bezeichnet werden. So basiert ein großer Anteil der Untersuchung auf persönlichen Interviews, welche die Autorin vor Ort mit Technokraten der Regierung sowie Eliten aus verschiedenen politischen Parteien durchgeführt hat. Hier sollten die Befragten ihre Wahrnehmung des Bedrohungsgrads ihres Landes darlegen und schildern, welche Maßnahmen aus ihrer Perspektive zur Verbesserung der Lage erforderlich sind. Außerdem wurde erfragt, welche Hindernisse bei der Implementierung dieser Maßnahmen existieren. Die meisten Befragten waren der Meinung, dass das größte Problem für die Durchsetzung von Reformen bei Präsident Salih selbst liege. Diese Ansicht ist jedoch ziemlich vereinfachend und befasst sich nur mit einem Teil der Probleme. Philipps stellt zwei weitere Komplexe fest, die eine Systemveränderung blockieren. Dies sind zum einen die Patronagebeziehungen, auf denen das politische System des Jemen beruht, und zum anderen das " kollektiven Handlungsproblem", das v. a. in der Opposition sehr deutlich hervortritt.
Das letzte Kapitel widmet sich den aktuellen Entwicklungen auf der politischen Bühne im Jemen, und an dieser Stelle gibt sie dem Leser auch ihre Perspektive auf die Zukunft des Landes. Sarah Phillips scheint hier eher eine pessimistische Ansicht zu vertreten. Sie kommt zu dem Schluss, dass das über Jahrzehnte tief verwurzelte Patronage-System im Jemen nur schwer zu ändern ist. Dass sich offizielle Oppositionsparteien, Teile des Militärs und wichtige Stammesführer den Regimegegnern angeschlossen haben, sei kein ausreichendes Zeichen für den Aufstieg einer neuen politischen Elite, die sich einer demokratischen, post-patrimonialen Phase zuwende. Schließlich seien diese Akteure die gleichen, die zur Wahrung des dysfunktionalen Systems beigetragen haben. Diese Argumentation ist zwar fundiert, jedoch muss eingewendet werden, dass Phillips einen wesentlichen Aspekt aus ihrer Analyse ausgeblendet hat, nämlich die Jugendbewegung. Viele Beobachter und Wissenschaftler sind der Meinung, dass die Jugend im Jemen einen neuen politischen Akteur bildet, der auf künftige Entwicklungen maßgeblich einwirken kann. Die Jugend hat gerade damit begonnen, neue Organisationsstrukturen mit Unterstützung der Oppositionsparteien aufzubauen. Sie setzt sich für die Abschaffung des Regimes ein und kämpft gegen Korruption und Patronage. [2]
Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass sich das System bereits vor dem Ausbruch der Revolution in einer Krise befand: Stagnierenden Erdöleinnahmen, die notwendig für die Erhaltung des Patronagenetzwerkes sind, zwangen Präsident Salih in jüngster Vergangenheit dazu, einige Akteure hieraus auszuschließen, was zu Konflikten mit dem Regime führte. Auch die Tatsache, dass die jemenitischen Ölvorkommen innerhalb der nächsten zehn Jahre erschöpft sein werden, [3] übt zusätzlichen Druck auf ein zukünftiges Regime aus, Alternativen für das so festgefahrene System zu finden.
All dies jedoch beeinträchtigt nicht den Wert dieser Arbeit. Mit dem Buch hat Sarah Phillips einen wertvollen Beitrag zur Literatur über die Patronage-Politik und die hieraus resultierenden Hindernisse zur Implementierung einer effektiven Reformpolitik im Jemen geleistet. Es gelingt Phillips, ihren eigenen Ansatz zu den informellen Herrschaftsstrukturen unter Salih weiterzuentwickeln, dessen Grundzüge sie bereits in ihrem 2008 veröffentlichten Buch Yemen's Democracy Experiment dargelegt hat. Ihre zahlreichen Beiträge bilden einen kohärenten Rahmen zum Verständnis des Jemens unter Ali Abdallah Salih, der verdeutlicht, wie die Auswüchse eines umfassenden Patronagesystems jeden ernsthaften Versuch vereiteln, die Entwicklung des Landes voranzutreiben.
Anmerkungen:
[1] Die Autorin überträgt das Konzept von Bratton & de Walle auf den Jemen und betont somit, dass Salihs Herrschaft Elemente "legaler" und "traditioneller" Herrschaftsformen beinhaltet. Damit meint sie die Penetration formeller staatlicher Organisationen durch Patronagenetzwerke. Vgl. Michael Bratoon / Nicolas van de Walle: Democratic Experiments in Africa: Regime Transitions in Comparative Perspektive, Cambridge 1997.
[2] Vgl. Jens Heibach: "Der Anfang vom Ende? Der Jemen nach Ali Abdullah Salih." In: Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients (Hg.): Proteste, Revolutionen, Transformationen - die Arabische Welt im Umbruch. Working Paper Nr.1 (2011), 134-135; siehe auch Elham Manea / Anna Würth: Geschlechter und Generationen. Eine Debatte. In: inamo, Bd. 16, Nr. 62 (2010), 30-32 sowie Tik Root: Yemen's Youth: The Best Hope for Democracy, Al-Jazeera vom 16.08.2011, http://english.aljazeera.net/indepth/opinion/2011/08/201181514211383535.html (20.08.2011).
[3] Vgl. Longley Alley: The Rules of the Game: Unpacking Patronage Politics in Yemen, in: The Middle East Journal, Bd. 64 (April 2010), Nr. 3, 393-394.
Dana Abdel Fatah