Nils Büttner / Esther Meier (Hgg.): Grenzüberschreitung. Deutsch-Niederländischer Kunst- und Künstleraustausch im 17. Jahrhundert, Marburg: Jonas Verlag 2011, 207 S., ISBN 978-3-89445-450-0, EUR 25,00
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Der Band vereint die Referate eines Symposions an der Universität Dortmund. Er enthält in nuce Beiträge, die jüngere regionale und prosopografische Forschungsergebnisse vorstellen. Im Zusammenwachsen Europas klingen die Konstrukte nationaler Kulturidentität ab, welche seit dem 19. Jahrhundert die Kunstgeschichte prägen. Die Herausgeber zeigen sich bewegt von kunstgeografischen Fragen. Der Begriff "deutsch" beschreibt die historische Wirklichkeit nur unscharf, gehörten die Niederlande doch zum Heiligen Römischen Reich und nannten sich ebenfalls "duytsch". Eine kulturelle Grenze lässt sich, wie Hessel Miedema darlegt, dennoch durch den Sprachunterschied fassen. So unterscheiden Karel van Mander und andere Autoren des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zwischen "duytsch" und "hoochduytsch" beziehungsweise "nederlandsche en hoogduitsche schilders" (niederländische und hochdeutsche Maler).
Regionale Kulturgeschichte war in der Frühen Neuzeit a priori auch eine überregionale/europäische, was nicht nur die Folgen des aus religiösen Gründen seit dem späteren 16. Jahrhundert vollzogenen Exodus aus den südlichen Niederlanden betrifft. So wurde das kulturelle Anspruchsniveau in deutschen Staaten und Städten von italienischen und niederländischen Vorbildern geprägt, wie Thomas Fusenig am Beispiel des Weserraums darlegt. Anhand der Genese des irreleitenden Terminus "Weserrenaissance" stellt er eine Region vor, die sich lebhaft mit den Niederlanden austauschte, wie beispielhaft an den Tätigkeiten von Maarten de Vos für den Hof in Celle oder von Hans Vredeman de Vries für Wolfenbüttel zu erkennen ist.
Der Exodus aus den südlichen Niederlanden ist als eine Ausnahmesituation anzusehen, zwang er doch viele protestantische Künstler nach Osten, die sonst zweifellos in den Niederlanden geblieben wären. Bevorzugte Exilorte waren Handelsplätze wie Frankfurt a.M. und Hamburg, denen die Beiträge von Kurt Wettengel, Franziska Siedler und Gerrit Walczak gewidmet sind. Obgleich der europäische Handel beiderorts blühte, erlebten die niederländischen Künstler hier einen spürbaren Unterschied zu den Arbeitsbedingungen ihrer Heimatstädte.
Die Ökonomie war in den südlichen Niederlanden weiter entwickelt, als es im deutschen Sprachraum der Fall war. Mit der Tuchproduktion hatte man in den flandrischen Seestädten Brügge und Gent die Marktwirtschaft erfunden. Ein handwerkliches Produkt wurde nicht mehr für einen individuellen Besteller, sondern als eine weitgehend standardisierte Ware für den freien Markt mit anonymen Käufern als Zielgruppe hergestellt. In Gent und Brügge, wenig später in Antwerpen übertrug man die avancierte Produktionsweise auf andere Gewerbszweige, wie die Herstellung von Gemälden. In Antwerpen wurden Bilder bekanntlich für den Markt am Onze Lieve Vrouwen Pand gemalt. Zusammen mit anderen Bedarfsgütern, Schnitzaltären und Kupferstichen exportierte man sie zugleich in andere europäische Regionen. Diese Entwicklung führte zur Liberalisierung der Zünfte, deren Mitglieder bei wachsender Nachfrage keine Konkurrenz fürchteten. Dafür sorgte schon die starke Binnennachfrage der Niederländer, die ihre Wohnungen mit Tafelbildern repräsentativ ausstatteten. In dieser angenehmen Situation schmeichelten zum Beispiel die Mitglieder der Antwerpener Malergilde Albrecht Dürer mit Malerlaubnis und freundlicher Bewirtung. Auch andere Maler wie Hans Memling oder Joos van Cleve hatten es wohl nicht schwer, in den Niederlanden Fuß zu fassen. Der Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften war groß.
Die zunehmende Abhängigkeit der niederländischen Maler vom Warenhandel führte dazu, dass sich die Exilanten bevorzugt in deutschen Handelsstädten niederließen. Franziska Siedler legt dar, wie mit den Migranten die in den Niederlanden gebräuchliche Kooperationsmalerei und ähnliche Formen ökonomisch effizienter Arbeitsteilung in Frankfurt einzogen. Den südniederländischen Modernisierungsprozessen stand aber in Frankfurt wie in Hamburg eine noch von Zunftprotektionismus geprägte Situation gegenüber, die es zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch noch in holländischen Städten wie Amsterdam und Delft gab. Getreue Auslegung der Handwerksordnungen regelte hier die Bildproduktion. Die Immigranten gerieten in eine Konkurrenz, die gemildert wurde durch die Nachfrage ihrer begüterten Landsleute nach Bildern. Neben dem Protektionismus der Zünfte führten konfessionelle Konflikte zur Bildung von Exklaven und Niederländerkolonien wie Altona und Neu-Hanau, das seit 1597 Calvinisten aus Frankreich und den südlichen Niederlanden aufnahm.
Im 17. Jahrhundert wurde der niederländische Stil in weiten Teilen Zentral- und Nordeuropas verbindlich. Und so sind denn die Werke der Maler Jacob Weyer, Simon Peter Tilman und Jürgen Ovens kaum von denen ihrer niederländischen Kollegen zu unterscheiden, wie die Beiträge von Timo Trümper, Justus Lange und Norbert Middelkoop zeigen. In Hamburg entfaltete sich, wie Gerrit Walczak darlegt, eine Sammlerkultur nach niederländischem Vorbild. Dass sie vergessen wurde, ist auf unglückliche Umstände zurückzuführen. Der auf kommunaler Ebene einsetzende enzyklopädische Sammeleifer des 19. Jahrhunderts bewahrte zwar das ein oder andere Bild am mittelbaren Ort, entzog es aber seinem ursprünglichen Kontext. Freilich geschah dies vielerorts, doch bedingte eine für Hamburg zu konstatierende Abstinenz von der regionalen Kulturgeschichte eine weitgehende Anonymisierung von Gemälden, welche das Niveau einstiger Kunstproduktion und Sammelkultur hätten veranschaulichen können. Der große Stadtbrand mag solche Enthaltsamkeit mit verursacht haben. Sie weicht seit einigen Jahren einer fruchtbaren Aufarbeitung der frühneuzeitlichen Hamburger Geschichte.
Die Beiträge von Esther Meier und Everhard Korthals Altes widmen sich Joachim von Sandrart und dem Einfluss seiner Künstlerbiografien auf das Sammeln in Deutschland. Eine Grenzüberschreitung im mehr kunstmedialen Sinne unternimmt Barbara Welzel anhand von Hendrick Goltzius' Federkunststück in Philadelphia. Nils Büttner zeigt auf, wie niederländische Stilkonventionen die europäische Porträtmalerei des 17. Jahrhunderts dominierten. Dabei relativiert er das alte Konzept der Memoria als Jenseitsvorsorge durch den Hinweis auf repräsentative Funktionen der Bildnisse im sozialen Diesseits.
Gern liest man auch den knappen Hinweis auf ein weiteres "epistemologisches Dispositiv" der Kunstgeschichte, dessen Überwindung die Herausgeber im Vorwort anzielen. Gemeint ist die geistesgeschichtliche Heroisierung individueller Künstler, welche die Beschäftigung mit historischer Kunst heute wohl noch ungleich stärker prägt als das nationalkulturelle Denken. Hier zeichnen sich aber begrüßenswerte Entwicklungen ab, wie das an der Uni Trier angesiedelte Projekt zur Erforschung europäischer Zunftordnungen. Solche Forschung ist historisch, weil sie nicht modische Ideen und kurzlebige Thesen konstruiert, sondern Geschichte rekonstruiert. Sie setzt den Mut voraus, bildende Künstler als das zu sehen, was sie waren: mitunter zu höchster ästhetischer Invention und Darstellung befähigte Handwerker, die das gesellschaftliche Bedürfnis ihrer Zeit nach Bildern befriedigten. In diesem Sinne leistet der vorliegende Band Erhellendes, indem er Regionalgeschichte in ihrem ursprünglichen europäischen Kontext rekonstruiert. Zu wünschen bleibt aber, dass die Kunstgeschichte schon bald auf transnational scheinende Fragestellungen verzichten kann, weil sie Europas Kulturgeschichte als genuine Einheit begreift. Äußerlich gliche dies Wittgensteins philosophischer Leiter, die man umstoßen muss, wenn man sie empor geklettert ist, um die Welt richtig zu sehen.
Heiner Borggrefe