Tanja Penter / Esther Meier (Hgg.): Sovietnam. Die UdSSR in Afghanistan 1979-1989, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2017, 371 S., 42 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-77885-7, EUR 59,00
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Immer wieder wird Afghanistan nicht nur in der medialen Berichterstattung als "Friedhof der Imperien" bezeichnet, als Land, das über die Jahrhunderte hinweg Eroberern trotzte. Als Belege hierfür gelten, will man nicht sogar bis zu Alexander dem Großem zurückgehen, insbesondere britische Desaster im "langen" 19. Jahrhundert sowie sowjetische und amerikanische bzw. NATO-Erfahrungen seit dem 20. Jahrhundert. [1] Mit derartig langen Linien verliert man naturgemäß konkrete Kontexte und Verläufe einzelner Konfrontationen leicht aus den Augen. Da ist es nur zu begrüßen, wenn sich die Forschung weiter um eben jene Tiefenschärfe bemüht. Dies ist auch ein Anliegen des vorliegenden Sammelbands, der auf eine Tagung 2013 zurückgeht. Das Vorhaben wird insgesamt eingelöst. Denkbare komparative, internationale und transnationale Zugriffe, wie sie im Titel angedeutet sind, bleiben allerdings weitgehend außen vor. Immerhin machen die Herausgeberinnen in ihrer kompakten Einleitung klare Unterschiede zwischen US-Kämpfen in Südostasien und dem Einsatz der sowjetischen Armee in Afghanistan ebenso deutlich wie wichtige Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten. Damit skizzieren sie quasi ganz nebenbei ein lohnendes Forschungsprogramm über westliche und östliche Großmachtpolitik in der Dritten Welt nach 1945.
Eine derartige Untersuchung hätte natürlich die Motivationen, Perspektiven und Aktionen der jeweiligen Gegner gleichgewichtig einzubeziehen. Diese Zusammenschau leistet der Band eingestandenermaßen nicht durchgängig. Wohl aber thematisieren einzelne Beiträge eben doch vorrangig afghanische Sichtweisen und Erfahrungen, andere beziehen sie zumindest en passant mit ein. Insgesamt konzentriert sich die Sammlung jedoch auf den "Platz des Afghanistankrieges in der sowjetischen Geschichte" und in postsowjetischen Erinnerungskulturen (11).
Dieses Unternehmen ist ambitioniert genug, wenn man daran denkt, dass damit ebenso wichtige wie komplexe Aspekte wie beispielsweise die Einstellung zentralasiatischer Soldaten zum Krieg gegen eine islamische Gesellschaft gehören. Diese Fokussierung hinterfragt zugleich gängige Narrative über die Sprengkraft bzw. den Eigensinn von islamischen, zentralasiatischen Bevölkerungsgruppen in der UdSSR. Thematisiert werden weiterhin der erinnerungspolitische Umgang von nicht-russischen republikanischen Eliten mit dem imperialen Niedergang der UdSSR, Problematiken von gesellschaftlichen Deutungen und Verarbeitungen in der letzten sowjetischen Umbruchphase und danach, oder Einflüsse alter und neuer kultureller Ausdrucksformen und Kommunikationstechnologien auf Erinnerungslandschaften generell. Die gegebene Themenvielfalt demonstriert die Stärken eines wirklich interdisziplinären Zugangs zu dem Geschehen. Auf der anderen Seite bleiben im breitgefächerten Zugriff Lücken. Sie lassen sich, wie im Fall der sowjetischen Entscheidungsprozesse, mit Hilfe der ausgiebigen Literaturhinweise schließen. Ob man allerdings der Vorgeschichte so breiten Raum geben muss, wie hier geschehen, zumal sie dann doch nur bis zum Ersten Weltkrieg bzw. bis in die 1960er Jahre hinein erzählt wird, sei dahingestellt. Mit Gewinn lesen sich die entsprechenden Beiträge von Rudolf Mark und Elke Beyer allemal: Als souveräner Überblick über die russisch-afghanischen Beziehungen mitsamt der afghanischen Positionen, oder als spannende Analyse städtebaulicher Kooperation in den 1960er Jahren. Letztere thematisiert mit Modernisierungsdiskursen und Wirtschaftsfragen wichtige Aspekte der Beziehungsgeschichte und differenziert ihrerseits die gesamtafghanische Gesellschaft und Politik weiter aus. Die Unterschiede im Land, beispielsweise die variierende Verbindlichkeit islamischer Glaubenssätze, innerafghanische politische und/oder ethnische Differenzen sowie differierende Entwicklungsmöglichkeiten und -hoffnungen trugen auch dazu bei, dass sich der Widerstand gegen die sowjetische Invasion keineswegs als so einheitlich und durchgängig umfassend darstellte, wie vielfach angenommen. Daraus ergibt sich auch ein kritischerer Blick auf die tatsächliche Kampfkraft und Effektivität der Mudschaheddin, wie der Beitrag von Rob Johnson demonstriert. Liest man seine Analyse in Verbund mit der Rekonstruktion der changierenden Interpretationen des Kriegs, die von den 1970er Jahren bis heute kursierten, lassen sich durchaus interessante, (selbst-)kritische Fragen zum Verhältnis von Zeitgeschehen und zeitgeschichtlicher Forschung entwickeln.
Den afghanischen Kämpfern standen sowjetische Soldaten gegenüber, deren individuelle Motivationen, Erfahrungen und Erinnerungen eine enorme Bandbreite aufwiesen und aufweisen. Dass sich die rund 130.000 zentralasiatischen Soldaten vor Ort als Abgesandte einer höherwertigen Macht betrachten konnten, ist, wie bereits erwähnt, einer der wichtigen Befunde zum Verhältnis von Afghanistankrieg und sowjetischer imperialer Geschichte. Es wird weiteren Forschungen auf breiterer Quellengrundlage überlassen bleiben müssen, inwieweit sich diese und andere zivilisatorische Selbstbilder mit gesamtsowjetischen Erfahrungen von Gewalt gegen Feinde, Zivilisten und eigene Kameraden vereinbaren ließen. Immer wieder, das lassen die Beiträge erkennen, zerbrachen hehre Ziele und pragmatische Intentionen an den Realitäten vor Ort. Mitunter dienen Erzählungen über angeblich positive Motivationen nur der nachträglichen Rechtfertigung oder erweisen sich als Kompensationsstrategien nach Abzug, Zerfall der UdSSR, und privaten Karrierebrüchen. Dabei konnten Veteranen gerade über diesen geteilten "postsowjetischen Verlustschmerz" in die Gesellschaft zurückfinden (16, 192f.). Die Instrumentalisierung durch die aktuelle staatliche Geschichtspolitik Russlands wertet die Gruppe heute auf. Die offizielle heroische Einfärbung stößt aber nicht bei allen ehemaligen Soldaten auf positive Resonanz, lässt sie sie doch mit den zahlreichen Schattenseiten des Kriegs allein.
Der Krieg in Afghanistan bleibt in vielerlei Hinsicht ein wesentlicher Bezugspunkt oder, umgekehrt, eine aussagekräftige Leerstelle des Erfahrungshaushalts der, wenn man so will, letzten sowjetischen Generation. Der Band fordert nachdrücklich dazu auf, die zahlreichen gesellschaftlichen und politischen, erinnerungskulturellen und staatlichen, sowjetischen, post-sowjetischen und internationalen Facetten weiter auszuleuchten.
Anmerkung:
[1] Vgl. David Isby: Afghanistan. Graveyard of Empires. A New History of the Borderlands, New York 2010; Stephen Tanner: Afghanistan. A Military History from Alexander the Great to the War against the Taliban, New York 2002; Peter Tomsen: The Wars of Afghanistan. Messianic Terrorism, Tribal Conflicts, and the Failures of Great Powers, New York 2011.
Andreas Hilger