Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biographie, Sonderausgabe, München: C.H.Beck 2011, 608 S., 57 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-61596-2, EUR 18,00
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Einsam war Heinrich von Kleist, sehr einsam. 1777 geboren, verlor er mit elf Jahren den Vater, mit sechzehn die Mutter. Er wurde zu einem lutherischen Pfarrer in Pension gegeben. Gemäß der Familientradition trat er mit vierzehn Jahren als Kadett in eines der vornehmsten Regimenter ein. Heute würde man von Kindersoldaten sprechen. Als Gardeleutnant verließ er die preußische Armee 1797. In den Revolutionskriegen nahm er u. a. an der Rückeroberung von Mainz teil. Doch das Militär behagte dem sensiblen jungen Mann nicht. Eine Phimose, eine Vorhautverengung, war es wahrscheinlich, die ihn davon abhielt, an den außerdienstlichen Vergnügungen seiner Kameraden teilzunehmen, und die seine Beziehungen zu Frauen, überhaupt körperliche Beziehungen, kompliziert gestaltete. Er blieb einsam. So wahrte er immer eine große Distanz zu gleichaltrigen Frauen und wählte wesentlich ältere Damen als Vertraute. Immerhin gewann er während seiner Militärzeit seine Halbschwester Ulrike als intime Briefvertraute. Ulrike entstammte einer früheren Ehe des Vaters. Aber auch mit ihr konnte er nicht sein Innerstes teilen: "Wärst Du ein Mann gewesen - o Gott, wie innig habe ich dies gewünscht! - Wärst Du ein Mann gewesen - denn eine Frau konnte meine Vertraute nicht werden, - so hätte ich diesen Freund nicht so weit zu suchen gebraucht, als jetzt" (119). Aber, an sie wird sein letzter Brief adressiert sein.
Für Gerhard Schulz, dessen Kleist-Biographie hier vorzustellen ist, ist die operative Behebung der Phimose der wahrscheinlichste Grund für die vieldiskutierte Würzburg-Reise Kleists. Weitere Gründe für die undurchsichtige Reise, wie die Behandlung einer Geschlechtskrankheit, die Behandlung von Homosexualität, militärische oder industrielle Spionage oder freimaurerische Aktivitäten, sieht Schulz als weniger wahrscheinlich an.
Zudem stotterte der Jüngling und sah mit vierundzwanzig noch aus wie mit vierzehn Jahren, wie Peter Friedels Kleist-Porträt aus dem Jahre 1801 offenbart (210). Er war wirklich kein Frauentyp. Das war ihm bewusst und er hielt sich gleichaltrige Frauen vom Leibe, auch Wilhelmine von Zenge, mit der er sich 1800 verlobt hatte - von der er jedoch fast immer räumlich getrennt lebte, in anderen Städten und Ländern. Mal schrieb er ihr, man müsse mit der Heirat noch sechs, ein andermal, man solle noch zehn Jahre warten (179), bis er sich eine Stellung in der Welt erarbeitet habe. Da sie dies nicht abschreckte, schlug er ihr schließlich brieflich vor, mit ihm einen Bauernhof in der gerade von einem antifranzösischen und -helvetischen Aufstand erschütterten Schweiz zu betreiben. Beide hatten keinerlei Erfahrung in der Landwirtschaft. Damit provozierte er 1802 endgültig die Auflösung der Verlobung.
Betörend hingegen klang ein Brief, den sein ehemaliger Regimentskamerad und Genosse einer Reise durch die Schweiz, Ernst von Pfuel, 1803 erhielt: "Ich hätte bei dir schlafen können, du lieber Junge, so umarmte dich meine ganze Seele! Ich habe deinen schönen Leib oft, wenn du in Thun vor meinen Augen in den See stiegest, mit wahrhaft mädchenhaften Gefühlen betrachtet. Er könnte wirklich einem Künstler zur Studie dienen. Dein kleiner krauser Kopf, einem feisten Halse aufgesetzt, zwei breite Schultern, ein nerviger Leib, das Ganze ein musterhaftes Bild der Stärke, als ob du dem schönsten jungen Stier, der jemals dem Zeus geblutet, nachgebildet wärest" (260). Von Pfuel wurde während der "Befreiungskriege" ein wichtiger Truppenführer und Standortkommandant des preußischen Sektors in Paris. In einer Zeit, als auch Seemänner in der Regel nicht schwimmen konnten, propagierte er das Schwimmen als ideale körperliche Ertüchtigung.
Nach dem Austritt aus der Armee scheiterten sämtliche der schnell wechselnden Lebensentwürfe Heinrich von Kleists. Das Studium der Kameralistik wurde abgebrochen, verschiedene Anläufe, in der Zivilverwaltung des preußischen Staates Fuß zu fassen, wurden ein ums andere Mal bald aufgegeben. Seine danach einsetzende literarische Produktion traf weder den allgemeinen Zeitgeschmack noch den möglicher höfischer Protektoren, auch die geistige Elite, wie Goethe, reagierte eher irritiert. Der übersteigerte Nationalismus sowie die Xenophobie der "Herrmannsschlacht" und einiger anderer Schriften wirken wenig überzeugend, wenn man weiß, dass er noch kurz zuvor in die französische Armee eintreten wollte, um an der Invasion Englands teilzunehmen, und sich als Postmeister im Napoleoniden-Königreich Westfalen bewarb. Auch Kleist musste zunächst an seinen Lebensunterhalt denken. Zeitschriften und Zeitungsprojekte scheiterten bald und hinterließen Schulden. Seine vertraute ältere Freundin, Frau von Kleist, mit der er nicht näher verwandt war, half heimlich. Ihre Zuwendungen flossen, getarnt als kleine Pension der Königin Louise. Auch Schwester Ulrike unterstützte ihn immer wieder. Doch hier wie dort waren die Mittel begrenzt. Geldsorgen waren es auch, die ihn von einer intensiveren Teilnahme am gesellschaftlichen Leben abhielten. In einem Berliner Salon erschien er in kaputten Stiefeln. Das ging eigentlich gar nicht. Man ging nicht in Stiefeln in einen Salon.
Schwer erträglich sind seine hypertrophen Selbstinszenierungen in den Briefen an seine Verlobte und seine Schwester Ulrike. Ständig deutet er an, er sei der Mittelpunkt großer Haupt- und Staatsaktionen, bald würde seine überragende Bedeutung allgemein sichtbar werden. Noch sei jedoch alles von einem großen Geheimnis umhüllt, weshalb er noch nichts Genaueres mitteilen könne. Das wirkte zunehmend kläglich, weil sein wiederholtes Scheitern so überaus offensichtlich war. Diese dauernde Diskrepanz zwischen eigenem Anspruch, bei anderen geweckten Erwartungen und beständigem Misslingen war es, die ihn letztlich zum Selbstmord führte.
Die Geschichte dieses Lebens erzählt der Australier Gerhard Schulz chronologisch in zwölf Kapiteln in elegantem Deutsch und entwickelt dabei eine Unmenge kluger Gedanken. Kompetent setzt Schulz sich mit der älteren Kleist-Forschung auseinander und bezweifelt zum Beispiel die These von der Kant-Krise, welche zum Wendepunkt in Kleist Leben geworden sei, oder doch zumindest zum Abbruch des Studiums geführt habe. Überzeugend weist Schulz nach, dass Kleist sich schon eher mit Kant beschäftigt hatte und es auch deutlich früher Anzeichen für den bevorstehenden Abbruch der Universitätsausbildung gab.
Bei Schulz tritt besonders Kleists ältere Halbschwester Ulrike, die ihn sein Leben lang unterstützte, aus seinem Umkreis hervor. Sie unternahm verschiedene Reisen mit ihm, wobei sie stets in Männerkleidung reiste. Als sie nach einem Konzert in Paris von dem blinden Flötisten Friedrich Ludwig Dülon, der ihre Kleidung nicht sah, aber mit seinem geschärften Ohr auf ihre weibliche Stimme reagierte, als "Madame" ansprach, mussten die Geschwister Kleist die Gesellschaft fluchtartig verlassen. Auch deswegen ist das Buch nicht nur für Germanisten und Kleist-Leser ansprechend, sondern auch für die Gender-Forschung. Interessante Ausführungen zur Transformationszeit um 1806 und zum "Preußentum" machen das Buch darüber hinaus auch für Historiker und allgemein an der Epoche und ihren geistigen Phänomenen Interessierte lesenswert. Das Buch ist mit Abbildungen von Autographen, zeitgenössischen Porträts und Gebäuden reich illustriert.
Drei Thesen prägen die Darstellung von Schulz. Kleist wurde als briefeschreibender Soldat und Student zum Literaten und Dramatiker. Ein Weg, der ihm nicht vorgezeichnet war. Es war wohl die Einsamkeit, die hier wirkte und schon in den Briefen Gegenwelten erschuf. Auch "das Bewusstsein von sich selbst hat er wesentlich im Schreiben entwickelt, in dem von Briefen zunächst und später in seiner literarischen Produktion" (36). Zweitens lehnt Schulz jeden Zusammenhang zwischen der Biographie Kleist und seinem literarischem Schaffen ab. Durch seine literarische Produktion kreierte er alternative Welten, die, abgesehen von seinen nationalistisch-xenophoben Schriften, wenige Bezüge zu seiner bedrängten Existenz aufweisen. Insofern ist auch drittens der Suizid "nicht die Fortsetzung der Literatur mit andern Mitteln" (37), wenngleich Schulz darauf hinweist, dass am Ende der Kleistschen Stücke auffallend oft der Tod steht. Erleichtert wurde die finale Tat für Kleist durch die Gemeinschaft einer verwandten Seele, der todkranken Henriette Vogel. Er, der sein Leben lang einsam war, starb fröhlich in gleichgesinnter Gesellschaft. Es scheint, dass ihm das Leben und sein beständiges Scheitern darin einfach zu beschwerlich geworden waren. Vielleicht war Heinrich von Kleist auch einfach zu einsam.
Wolfgang Burgdorf