Nicolas Wolz: Das lange Warten. Kriegserfahrungen deutscher und britischer Seeoffiziere 1914-1918 (= Zeitalter der Weltkriege; Bd. 3), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2008, VIII + 519 S., ISBN 978-3-506-76471-3, EUR 34,90
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Der Erste Weltkrieg wird in der kollektiven Erinnerung oftmals auf den Landkrieg reduziert, obwohl mit dem Deutschen Reich und Großbritannien zwei der bedeutendsten Marinemächte aufeinandertrafen. Entgegen den Erwartungen der Vorkriegsjahre kam es allerdings nicht zur entscheidenden Seeschlacht der Großkampfschiffe. Stattdessen wurde der Seekrieg hauptsächlich von kleineren Einheiten geführt. Wie gingen die Offiziere einer Elitewaffe, die ihren gesellschaftlichen Status sowie die materiellen und politischen Kosten ihrer Waffengattung rechtfertigen mussten, mit dieser Situation um? Wie reflektierten sie ihren Anteil am Krieg, und wie wirkte sich dies auf ihr Selbstverständnis aus? Nicolas Wolz widmet sich in seiner Dissertation diesem bislang unberücksichtigt gebliebenen Thema in vergleichender Perspektive. Seine Untersuchung der Mentalität einer militärischen Elite stützt sich dabei auf die Selbstzeugnisse von 30 Offizieren, 14 deutschen und 16 britischen.
Im ersten Kapitel analysiert Wolz auf der Grundlage der Forschung die Vorprägungen und Gemeinsamkeiten der Offiziere beider Nationen. Im Mittelpunkt stehen dabei die Auswahl und Ausbildung der Seeoffiziere. Anschaulich legt der Autor dar, wie trotz aller Tendenzen zur Verbürgerlichung auf beiden Seiten ein konservatives, staatsloyales Elitedenken vorherrschte. Im zweiten Kapitel beschreibt Wolz die Monotonie des Kriegsalltags, der ganz überwiegend aus Wachdienst, Übungen und Liegezeiten bestand. Besonders hart traf es die britischen Offiziere, da sie mehrheitlich im unwirtlichen Schottland stationiert waren. Für die deutschen Offiziere in Wilhelmshaven und Kiel herrschten dagegen fast friedensähnliche Zustände. Während die rauen Lebensbedingungen in Schottland offenbar den Zusammenhalt zwischen Mannschaften und Offizieren förderten, akzentuierte die Situation in Deutschland durch die Privilegierung der Offiziere gegenüber den Mannschaften die Gegensätze. Im mangelnden Verständnis der deutschen Offiziere für die Situation der Mannschaften und in den autoritären Reaktionen auf Unzufriedenheit sieht Wolz Auslöser der Revolution von 1918. Auf britischer Seite seien hingegen Ventile für die Unzufriedenheit der Mannschaften geschaffen worden.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Deutungen der Ereignisse durch die Seeoffiziere. Ihre Sinnstiftungen entsprachen den vorherrschenden nationalen Konstrukten. Die Deutschen glaubten "eingekreist" gegen eine Welt von Feinden bestehen zu müssen; ihre britischen Gegenspieler meinten, einen Krieg für die Freiheit und gegen den deutschen Aggressor zu führen. Der Krieg wurde zwar als Belastung - insbesondere für die Zivilbevölkerung - empfunden, eine Abkehr von der Kriegslogik vollzog aber keine Seite. Der Gedanke eines Verhandlungsfriedens wurde abgelehnt.
Gleichwohl blieb das Problem bestehen, die eigene Untätigkeit einzuordnen. Auf beiden Seiten mussten die Seeoffiziere an ihren jeweiligen Parametern scheitern. Weder lieferte die Hochseeflotte solche militärischen Leistungen wie das Heer ab, noch gelang der Royal Navy eine Vernichtungsschlacht nach Nelsonschem Vorbild. Die strategische Notwendigkeit der eigenen Passivität wurde nur widerwillig akzeptiert. Die Ursachen für die eigene Untätigkeit erklärte man sich durch das Wirken äußerer und innerer Gegner. Eingebettet in die nationalen Feindbilder, wurden hier wie dort die angebliche gegnerische Feigheit vor dem Kampf und die vermeintliche Schwäche der Politiker verantwortlich gemacht.
Auf der deutschen Seite war die Vorstellung, bis zum Untergang zu kämpfen, von zentraler Bedeutung für die eigene Ehrvorstellung. Kapitulation und Gefangenschaft waren für die meisten Offiziere undenkbar - aus dieser Einstellung entwickelte sich die Idee einer Selbstmordmission zum Kriegsende, die als einer der Auslöser der Revolution angesehen werden kann. Die Selbstversenkung der Flotte in Scapa Flow reiht sich in diese Vorstellungswelt ein und war für das Ehr- und Selbstverständnis der Marineoffiziere von zentraler Bedeutung. Auf britischer Seite ging die Vorstellung von Ehre nicht unbedingt bis zum Untergang des Schiffes. Gleichwohl kratzte es erheblich am Selbstwertgefühl der Marineoffiziere, dass sie ihre Aufgabe, die deutsche Hochseeflotte zu schlagen, nicht erfüllen konnten. Um die eigene Existenz gegenüber der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, griff man deshalb zu militärisch riskanten Manövern wie etwa den Angriff auf Zeebrügge und Ostende. Letztlich ist dieses Handeln beider Seiten auch als Versuch zu werten, Ehrkapital für die Nachkriegszeit zu erarbeiten, um so den eigenen Status als militärische und gesellschaftliche Elite weiterhin zu legitimieren. Dies war auf deutscher Seite umso wichtiger, da auch bei einem siegreichen Ausgang des Krieges damit zu rechnen war, dass U-Boote und leichte Einheiten den Schlachtschiffen den Rang ablaufen würden. Auf den Friedensvertrag und die Abrüstung der verbliebenen Flotte reagierten nicht wenige Seeoffiziere mit einem Rückzug ins Private, wenngleich die Mehrzahl der Offiziere der Marine erhalten blieb.
Insgesamt legt Nicolas Wolz eine gelungene und angesichts der hervorragenden Quellenlage auch überfällige vergleichende Mentalitäts-, Sozial- und Kulturgeschichte der Seeoffiziere im Ersten Weltkrieg vor. Sie wirft mehr als nur ein Schlaglicht auf eine Elite, die ihren Ansprüchen letztlich nicht gerecht werden konnte. Außerdem zeigt diese Studie, dass Soldaten, zumal Offiziere, unabhängig von unterschiedlichen nationalen Prägungen generell den Drang verspüren, sich im Krieg zu beweisen. [1] Die Arbeit von Wolz verdeutlicht, dass gerade die Mentalitätsgeschichte ein fruchtbares Feld für weitere Forschungsarbeiten ist, zumal wenn dabei die vielfach eingeforderte, aber nur selten beachtete Perspektive eines internationalen Vergleichs gewählt wird. [2] An der quellengesättigten Studie lassen sich nur wenige Kritikpunkte anbringen. Das Resümee ist mit sechs Seiten etwas knapp ausgefallen. Im Anhang hätte man sich eine Unterscheidung zwischen gedruckten Quellen, zeitgenössischer und aktueller Literatur gewünscht. Die falsche Jahreszahl für die Selbstversenkung der deutschen Hochseeflotte (92) ist ärgerlich, kann aber am positiven Gesamteindruck nichts ändern.
Anmerkungen:
[1] Vgl. auch: Sönke Neitzel / Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 2011, 347f und 411-413.
[2] Vgl.: Hew Strachan: Towards a Comparative History of World War I. Some Reflections, in: Militärgeschichtliche Zeitschrift 67-2 (2008), 339-344, hier: 343f.
Hendrik Schmehl