Rezension über:

Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, 181 S., ISBN 978-3-05-005683-8, EUR 29,80
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Rezension von:
Matthias Becher
Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Jürgen Dendorfer
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Becher: Rezension von: Johannes Fried: Canossa. Entlarvung einer Legende. Eine Streitschrift, Berlin: Akademie Verlag 2012, in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 1 [15.01.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/01/21981.html


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Johannes Fried: Canossa

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Vor rund zehn Jahren präsentierte Johannes Fried seinen neuen Ansatz zur Quellenkritik, die historische Memorik, erstmals in Buchform der Öffentlichkeit. [1] Neben einem ausführlichen Theorieteil diskutierte er auch eine Vielzahl von Einzelfällen und gelangte zu durchaus aufsehenerregenden Neuwertungen. Soweit ich sehe, lehnte die wissenschaftliche Öffentlichkeit seine Thesen keineswegs entschieden ab. [2] 2008 unterzog Fried dann erstmals auch das Geschehen von Canossa einer eingehenden Analyse mit Hilfe dieses methodischen Zugangs. Dagegen erhoben sich, wie in der Einleitung von Jürgen Dendorfer angemerkt, etliche Stimmen der Kritik. Darauf folgte die hier zu besprechende Replik von Fried, deren Anlage und weiterführende Thesenbildung nicht Gegenstand der Besprechung sein sollen. Auf sie hofft der Verfasser in einem anderen Kontext zurückkommen zu können.

Die historische Memorik hat Fried in Auseinandersetzung mit Ergebnissen der Hirnforschung, aber auch Beobachtungen über die Unzuverlässigkeit von Augenzeugenberichten entwickelt. Demnach wird die Erinnerung an ein Geschehen im Gehirn in vielfältiger Weise verformt, wobei das Geschehen selbst, die aktuelle Situation, in der die Erinnerung abgerufen wird, und ganz grundsätzlich die kulturelle Prägung einer Person in ihrer frühkindlichen Phase entscheidende Rollen spielen. Die Verformung durch Erinnerung muss man auch bei mittelalterlichen Zeitzeugen und damit auch den Autoren unserer Quellentexte - Chroniken, Annalen, Briefe und sogar Urkunden - annehmen. Um diesen verformten Erinnerungen aber auf die Spur zu kommen, gilt es, Widersprüche zwischen den Berichten über ein und dasselbe Geschehen aufzudecken und nach Möglichkeit zuverlässige Zeugnisse namhaft zu machen, die der Verformung durch Erinnerung nicht unterliegen.

Solche zuverlässigen Zeugnisse sieht Fried etwa in der zeitlichen Dauer, die das Reisen in der damaligen Zeit in Anspruch genommen hat, denn selbst ein Eilbote benötigte von Tribur nach Rom mehrere Wochen, und ein reisender Papst für die Strecke von Rom nach Augsburg ebenfalls. Diese drei Orte sind aus folgenden Gründen von entscheidender Bedeutung: In Tribur (Kreis Groß-Gerau) hatten die deutschen Fürsten im Oktober des Jahres 1076 Heinrich IV. angedroht, ihn nicht länger als König anzuerkennen, wenn er nicht bis Mitte Februar 1077 Gregor VII. dazu bewegte, ihn vom Kirchenbann zu lösen. Außerdem setzten sie in Augsburg eine Versammlung an, bei der auch der Papst anwesend sein sollte. Es galt demnach, gewaltige Distanzen zu überwinden. Damit all dies reibungslos funktionierte, kam es entscheidend auf die zur Verfügung stehende Zeit an. Allgemein geht man davon aus, dass die Eilboten der deutschen Fürsten am 1. November 1076 Tribur verließen und die Augsburger Versammlung am 2. Februar 1077 zusammentreten sollte. Fried bringt nun ein Quellenzeugnis ins Spiel, das seiner Meinung nach die gesamte Situation in einem neuen Licht erscheinen lässt: das sogenannte Königsberger Fragment, verfasst nach dem Juni 1077 möglicherweise sogar von Erzbischof Siegfried von Mainz, einem der wichtigsten Gegner Heinrichs IV. im Reich. Es besagt, die Fürsten hätten dieses Treffen auf Epiphanias, also den 6. Januar 1077, gelegt. Angesichts der personellen und inhaltlichen Nähe zum Geschehen räumt Fried dem Königsberger Fragment den Vorrang vor allen anderen Zeugnissen ein, die den 2. Februar als Termin nennen. Diese enge Zeitsetzung hätten die Fürsten nur vorschlagen können, argumentiert Fried, falls sie wussten, dass Gregor VII. diese Reise ohnehin plante und schon mit entsprechenden Vorbereitungen begonnen hatte. Ansonsten wäre der Vorschlag der Fürsten eine Zumutung für den Nachfolger des Heiligen Petrus gewesen, denn er hätte sozusagen alles stehen und liegen lassen und Hals über Kopf aufbrechen müssen. Folglich, so Fried weiter, sei die Reise eigentlich schon abgemacht gewesen, der Papst sei sozusagen schon reisefertig und vor allem seien die Verhältnisse in Rom für die Dauer seiner Abwesenheit geregelt gewesen.

Ganz so einfach ist das Kontrollinstrument der Reisezeiten aber nicht anzuwenden, denn die Abreise- und Ankunftsdaten sind nicht hinreichend eindeutig überliefert, um zuverlässige Zeugnisse darzustellen. So ist keineswegs sicher, dass die Eilboten Tribur erst Ende Oktober gegen Ende der Zusammenkunft verlassen haben. Ebenfalls denkbar wäre eine Abreise noch während der Versammlung, die immerhin bereits am 16. Oktober zusammengetreten war. Zwar waren die Verhandlungen zwischen König und Fürsten überaus schwierig, aber dieses Argument schließt die genannte Möglichkeit nicht aus. Noch unsicherer aber sind die Reisezeiten selbst, da die Geschwindigkeit von Eilboten nicht zweifelsfrei festgelegt werden kann. Legten sie auf der von Fried auf 1300 bis 1400 km geschätzten Strecke 50 km pro Tag zurück, so kamen sie vom 1. November an gerechnet wohl tatsächlich erst am Ende des Monats in Rom an. Dies wäre Fried zufolge für eine Reise Gregors VII. bis zum 6. Januar in das von Rom rund 1100 km entfernten Augsburg zu knapp gewesen, da man für die päpstliche Reisegesellschaft wohl nicht mehr als 30 km pro Tag ansetzen könne. Diese Rechnung unterliegt aber mehreren Variablen: So verändert allein schon eine Erhöhung der angenommenen Durchschnittsgeschwindigkeit des Boten auf 60 oder gar 70 km das von Fried entworfene Szenario. Für eine solche Veränderung der entscheidenden Variablen lassen sich durchaus erhellende Beispiele beibringen, wie Steffen Patzold gezeigt hat. [3] Kurz: ein etwas früheres Abreisedatum und eine etwas höhere Geschwindigkeit der Eilboten verändern die Rechnung derart, dass den in Worms Versammelten eben doch die Hoffnung unterstellt werden darf, der Papst könnte rechtzeitig zum 6. Januar nach Augsburg gelangen. Immerhin boten sie Gregor VII. nach der gängigen Interpretation des Geschehens an, über den gebannten König richten zu dürfen. Dies wäre selbst für den Papst ein sehr guter Grund gewesen, sich zu beeilen. Damit kommen weitere von Fried gesetzte Daten ins Spiel: Der Tag von Gregors Abreise aus Rom und die Geschwindigkeit seiner Reisegesellschaft. Aufgebrochen sei der Papst um den 1. Dezember 1076, so Fried auf der Grundlage seiner Berechnungen über das Eintreffen der deutschen Eilboten in Rom. Die Geschwindigkeit, mit der Gregor sich mit seinem großen Gefolge habe fortbewegen können, habe bei 21 bis 23 km pro Tag gelegen. Für den Normalfall trifft diese Berechnung sicher zu, aber gilt sie auch für Gregor VII. im Herbst 1076? Insgesamt handelt es sich um reine Schätzungen, die genau so viel Wahrscheinlichkeit für sich haben wie die Annahme, dass der Papst die Ewige Stadt etwas eher verließ und zudem schneller als üblich über die Alpen reiste, um am 6. Januar in Augsburg sein zu können. Die Reisezeiten sind daher kein sicheres Kontrollinstrument zur Überprüfung der Historiographie, sondern Variablen in einer überaus komplexen Rechnung.

Damit wäre die Frage der Reisezeiten bereits geklärt und die Zuverlässigkeit der Reisedauer als historisches Zeugnis relativiert. Eine weitere Auseinandersetzung mit Frieds Thesen kann damit aber nicht entfallen, denn mit den gerade vorgestellten Überlegungen haben wir seine Argumentation nur mit einem Fragezeichen versehen, zwingend widerlegt ist sie damit aber noch nicht. Daher ist es berechtigt, nach weiteren Punkten zu suchen, die der bisherigen Deutung von Canossa widersprechen. Denn sie beruht auf einer zielgerichteten Quelleninterpretation, vorgelegt im 19. Jahrhundert von Gerold Meyer von Knonau in den Jahrbüchern des Deutschen Reiches, die selbstverständlich der kritischen Überprüfung bedarf. An solchen Punkten wegen der unsicheren Quellenlage nicht weiterzudenken, hieße, diese älteren Deutungen auf ewig fortzuschreiben, nicht, weil sie richtiger, sondern weil sie einmal in grundlegenden Arbeiten so formuliert worden sind. Dies zudem auf der Grundlage des Berichts von Lampert von Hersfeld, dessen Zeugnisse für die neuere Forschung keineswegs über jeden Zweifel erhaben sind, um es vorsichtig zu formulieren.

Und so fügt Fried zu seinen Überlegungen über das Königsberger Fragment die Aussage eines weiteren Zeitzeugen, den Bericht Arnulfs von Mailand. Dieser war nicht nur Geschichtsschreiber, sondern spielte durchaus eine aktive Rolle, denn kurz nach dem Akt von Canossa war er als Mitglied einer Mailänder Gesandtschaft selbst beim Papst. Arnulf zufolge hätten Kaiserin Agnes, Markgräfin Mathilde und Abt Hugo von Cluny versucht, zwischen Gregor VII. und Heinrich IV. zu vermitteln, indem sie ein allgemeines Kolloquium anberaumten, das in Alemannien stattfinden sollte. Davon ist bei keinem anderen unserer Gewährsleute die Rede, und man wird Arnulf hier tatsächlich einen hohen Stellenwert zubilligen müssen. Dagegen stützte sich die Forschung bislang lieber auf die Berichte deutscher Quellen, insbesondere den Bericht Lamperts oder des schwäbischen Berthold. Im Folgenden charakterisiert Arnulf das Geschehen von Canossa als pacis federa, Bündnisse des Friedens, zwischen Papst und König. Was hat diese Wendung nun zu bedeuten? Laut Fried hätten sich die beiden wechselseitig ihren honor, ihre Ehre, zugesichert. Das ist sehr allgemein gehalten, und man könnte darunter schlicht das verstehen, was man über Canossa ohnehin schon wusste: Heinrichs öffentliche Buße, seine Lösung vom Bann und den Eid, mit dem er versprach, sowohl den deutschen Fürsten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen als auch dem Papst eine sichere Reise nach Deutschland zu sichern. Fried aber schließt aus Arnulfs Worten auf einen weitreichenden Vertrag, den Papst und König geschlossen hätten. Dieser habe aber keine Wirkung entfalten können, weil ihn weder die deutschen Fürsten noch die oberitalienischen Bischöfe akzeptierten. Fried sucht zwar, einige Inhalte zu rekonstruieren und stützt sich dabei etwa auf das bemerkenswerte Verhalten des Papstes, der Heinrich IV. in den folgenden rund drei Jahren weiterhin als König anerkannte. Freilich kann man dies auch anders erklären, etwa als geschickte Taktik Gregors VII., den Salier und seinen wenige Wochen nach Canossa erhobenen Gegen- oder Konkurrenzkönig Rudolf von Schwaben gegeneinander auszuspielen.

Am Ende könnte also eine Deutung der Ereignisse von Canossa stehen, die mit der bisherigen Einschätzung der Forschung als gelungenes taktisches Manöver Heinrichs IV. harmoniert. Frieds Verdienst ist es, sämtliche Quellen zu Canossa noch einmal sorgfältig durchgesehen zu haben und dabei wieder auf manches Bekannte, aber seit langem vernachlässigtem Zeugnis aufmerksam gemacht zu haben. Recht zu geben ist ihm auch darin, die gesamte Deutung nicht auf Zeugnisse wie den Bericht Lamperts von Hersfeld zu stützen, der zwar ein eindrückliches Bild von dem mühselig über die Alpen reisenden Salier gezeichnet hat, jedoch nicht, weil er dafür ein zuverlässiger Zeuge war, sondern weil er Heinrich IV. als unwürdigen König zeigen wollte. Auch die sogenannte Oppenheimer promissio vermag er überzeugend neu zu bewerten: ein Obödienzversprechen gegenüber dem Papst, das dem König nicht etwa von den deutschen Fürsten abgepresst wurde, sondern das er freiwillig abgab, um Gregor VII. sein Einlenken zu signalisieren. Und schließlich ist die Feststellung von größter Wichtigkeit, dass nicht nur die Fürsten und der Papst im regen Botenaustausch miteinander standen, sondern dass mit Kaiserin Agnes, Abt Hugo von Cluny und Mathilde von Tuszien Vermittler aktiv geworden sind, die den Akt von Canossa vorbereitet haben - das ist nicht wenig auf einem viel beackerten Feld. Doch am Akt von Canossa selbst wird man wohl festhalten dürfen.


Anmerkungen:

[1] Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004. Mit Verweis auf ältere Vorarbeiten.

[2] Ansätze zu einer Kritik bzw. einer Weiterentwicklung von Frieds Ansatz: Dieter Langewiesche / Niels Birbaumer: Neuropsychologie und Historie - Versuch einer empirischen Annäherung. Posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) und Soziopathie in Österreich, in: Geschichte u. Gesellschaft 32 (2006), 153-175, hier 154-159; Marcel Müllerburg: Risse im Schleier der Erinnerung. Zur Kritik der historischen Memorik, in: ZfG 58 (2010), 201-221.

[3] Vgl. Steffen Patzold: Gregors Hirn. Zu neueren Perspektiven der Forschung zur Salierzeit, in: geschichte für heute 4 (2011), 5-19, hier 11f.

Matthias Becher