Lora Wildenthal: The Language of Human Rights in West Germany, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2013, 285 S., ISBN 978-0-8122-4448-9, USD 69,95
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Es gibt noch nicht viele genuin historische Arbeiten zur Menschenrechtsgeschichte der Bundesrepublik; zu nennen ist eigentlich nur eine Monographie von Silke Voss zu entsprechenden Bundestagsdebatten. [1] Lora Wildenthal, an der Rice University in Houston lehrend, hat schon andere bedeutende Arbeiten, vor allem zur Geschichte des Kaiserreichs, publiziert. Sie legt in ihrem neuen Werk großes Gewicht darauf, nur die Sprache der Menschenrechte zu untersuchen, nicht die diesen zugrundeliegenden Normen selbst. Diese werde verwandt, um andere mit spezifischen Formen von Ungerechtigkeit zu konfrontieren, werde also taktisch oder besser: politisch gebraucht. Sie stelle eine politische Sprache dar. Aber sekundär geht es ihr dann doch auch um die Glaubwürdigkeit (credibility) dieser Argumentationen und damit um eine wertgebundene Rückkopplung.
Wildenthal deckt im Kern die gesamte Nachkriegsgeschichte von 1945 bis zur Gegenwart ab, und zwar in fünf zeitlich und logisch aufeinander aufgebauten Fallstudien. Sie legt keinen Wert auf die internationale Vernetzung, die in den meisten anderen Studien zu Menschenrechten thematisiert wird, sondern konzentriert sich ganz auf die Binnenentwicklung. Dabei vermag sie idealtypisch vier Gebrauchsweisen der Sprache der Menschenrechte zu erkennen: Erstens dienten Menschenrechte schon seit 1945 einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zumal der NS-Zeit. Zweitens gab es die Rede der nicht NS-Verfolgten von deutschen Opfern, vor allem in der Frage von Flucht und Vertreibung. Hier unterscheiden sich individuelle und kollektive Argumente (Selbstbestimmung), wobei letztere nicht von vornherein in den kodifizierten Menschenrechtserklärungen vorhanden war. Die dritte Argumentenreihe bezog sich auf die Verletzung von Menschenrechten in sozialistischen Staaten, etwa des Ostblocks, während die vierte Sprechweise sich auf Ausländer und deren Rechte vor allem seit den 1960er Jahren bezog. Dieser externe Bezug traf ja auch auf die sozialistischen zu, Wildenthal meint hier jedoch vor allem die Dritte Welt. Mit Bezug auf die Sprache der Menschenrechte erwähnt sie am Rande die 1991 gegründete Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde durch ehemalige Stasi-Mitarbeiter. Das liegt - so die Autorin - ganz in der Logik ihrer Untersuchung, zugleich findet sie dies jedoch "outrageous" (15). Diese Ambivalenz zeigt sich auch sonst in der Themenwahl und Einordnung der Befunde.
Die vier Elemente finden sich in den elaborierten Fallstudien jeweils in der Bilanz wieder, nicht aber in der Narratio der Kapitel. Diese sind mehrdimensional angelegt, vermögen also eine Mehrschichtigkeit, ja Widersprüchlichkeit der Menschenrechtsargumente oder einen Wandel, ein Scheitern der Protagonisten zu zeigen. Eingebettet wird dies in knappe, bisweilen etwas holzschnittartige Blicke in die bundesdeutsche Entwicklung als solcher, die zumal für die fünfziger Jahre sehr stark in die Richtung eines stickig-muffigen Adenauer-Regimes gelenkt wird, was zumindest angesichts der breiten Modernisierungsdebatte ergänzungsbedürftig wäre.
Die Fallstudien thematisieren auf den ersten Blick Organisationen oder Personen, enthalten aber je eine Mischung von beiden: Personen stehen für ganze sektorale Bereiche oder Strömungen, Organisationen werden anhand des Handelns und Denkens einzelner Personen vorgeführt. Merkwürdigerweise sind die beiden ersten Kapitel in fast identischer Form bereits anderweitig publiziert [2], sodass nur drei ganz neue Themen zu verzeichnen sind. Das erste Kapitel thematisiert die Deutsche Liga für Menschenrechte, vornehmlich in der Besatzungszeit. Hier hatten oft Weimarer Intellektuelle das Sagen - Otto Lehmann-Rußbüldt oder Kurt Großmann werden genannt, aber auch eine Reihe sonst wenig bekannter Personen, etwa in den Ortsvereinen Wuppertal, Frankfurt und Berlin. Anfang der fünfziger Jahre ging diese Organisation in einem Klima von Korruption und Spionage unter. Ob und wie die CIA und andere Geheimdienste hier mitspielten, wäre genauer zu fragen. Wildenthal erkennt hier die "fundamental dilemmas of mobilizing a universalist language in the practical, and highly political world" (43), mit der die Liga unter den Druck u.a. der Vertreibungsfrage geriet.
Rudolf Laun, um den es im zweiten Kapitel geht, war ein bedeutender, sozialdemokratischer Staatsrechtler schon in der Weimarer Republik, entwickelte klare Vorstellungen von der Autonomie des Rechts, des öffentlichen Bewusstseins und des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Von den Sudetendeutschen ausgehend, entwickelte er nach dem Krieg vor allem die Figur des Rechts auf Heimat und öffnete dabei auch für eine breitere Öffentlichkeit einen Rahmen für Opferdiskurse der Deutschen, die hier in breitere, vor allem staatsrechtliche Diskurse eingebettet werden.
Wichtige menschenrechtliche Gruppierungen wie die Internationale Liga für Menschenrechte, Amnesty International in seinem deutschen Zweig und die Humanistische Aktion bilden den Gegenstand des dritten Kapitels. Sie "konfrontierten" Adenauers Deutschland, denn sie eroberten sich zwischen 1956 und 1961 einen neuen öffentlichen Raum in der BRD (69), der nach dem Verbot der KPD und bis zum Mauerbau von den existierenden politischen Parteien nicht gefüllt wurde. Das Ehepaar Ossip und Lili Flechtheim spielten hier als Ältere eine Rolle; Gerd Ruge und Carola Stern als WDR-Journalisten in Köln waren bei der frühen Amnesty sehr wichtig, Wolfgang S. Heinz und andere kamen dazu. Bei der Humanistischen Union (HU), 1961 gegründet, werden Gerhard Szczesny, Martin Walser und andere bis in die späten 1960er Jahre untersucht; die neuen Impulse der Humanistischen Studentenunion dabei besonders hervorgehoben. Bei diesen Gruppierungen ging es um die NS-Vergangenheit, dann aber um innenpolitische Reformvorhaben wie die Strafrechtsreform bzw. um Opposition gegen die Regierungen wie bei der Notstandsgesetzgebung. Dabei wurden - zumal bei Amnesty das Verbot galt, sich um Verfolgte im eigenen Land einzusetzen - auch Ansätze zu einem übergreifenden Denken, gerade mit Blick auf die Dritte Welt gefunden. Die Verbindungen und Übergänge zur Studentenbewegung (sie wird nicht thematisiert) und damit zur nächsten Generation waren zahlreich.
Otto Kimminich, der Gegenstand des vierten Kapitels, war wie Laun Staatsrechtler und hatte einen sudetendeutschen Hintergrund. Er wird breit eingebettet in das entsprechende bundesdeutsche Rechtsdenken der nächsten Generation. Er entwickelte die Idee vom Volksgruppenrecht (mit), der Wildenthal völkische Ursprünge zuweist. An einer Stelle (124) meint die Autorin Kimminich gar kruden Antisemitismus nachweisen zu können. Bei der Volksgruppenfrage hätte man sich allerdings eine breitere Einbettung in nicht nur deutsche Regionalismusdebatten der Zeit gewünscht, die etwa auf die europäische Ebene ausgreifend, manches von Einflüssen von Personen wie Kimminich verständlicher machen könnten. Kimminich, der bis 1997 ca. 100 selbstständige Veröffentlichungen vorlegte, steht für die Autorin aber in sehr viel weiteren und unterschiedlichen Kontexte der Argumentation mit Menschenrechten. Neben Aktivitäten im Umfeld der Sudetendeutschen Landsmannschaft sind auch solche für die Friedenswissenschaft, Ausländer in der Bundesrepublik und die Asyldebatte der achtziger Jahre ebenso wie Dritte Welt zu verzeichnen. Verbindungen entwickelte Kimminich auch zu Terre des Femmes, dem Thema von Kapitel fünf. Dabei standen seit den achtziger Jahren vielfältige Probleme zumal von Migrantinnen in der Bundesrepublik im Vordergrund. Das waren zunächst Zwangsverheiratung und Genitalbeschneidung, aus denen sich ein sehr viel weiteres Spektrum an Themen der neuen Frauenbewegung entwickelte. Der Schweizer Edmond Kaiser wird hier wichtig, ebenso wie Benoîte Groult, deren Schriften (nicht ganz einsichtig) auf etlichen Seiten (145-149) referiert, aber auch kritisiert werden. Schlüssig wird hier die Konsolidierung und Themenerweiterung der Bewegung bis in die Gegenwart herausgearbeitet, auch wenn einzelne Passagen ein wenig beliebig und anekdotisch erscheinen. Gut recherchiert und innovativ ist das allemal.
Das gilt auch für das ganze Buch, bei dem 174 Textseiten von 78 Seiten Anmerkungen begleitet werden. Was bleibt? Die fünf Kapitel erweisen sich als gelungene und gerade in ihrer Diversität gut aufeinander hin komponierte Teile, die gleichsam Schneisen durch eine noch wenig erforschte Landschaft schlagen. Wildenthal mag recht haben, dass die Sprache der Menschenrechte immer oppositionell sei ("The language of human rights is oppositional, but in an insubstantial, open-ended kind of way" (174)). Darüber hinaus könne es keine klaren Kriterien dafür geben, was denn zu Menschenrechten gehöre (168). Was Wildenthal vorlegt, ist auf unterschiedliche Facetten eines eher linken und liberalen bürgerlichen Engagements fokussiert, verschnitten mit dem Rechtsdenken zweier Protagonisten, die aus der Vergangenheit der Vertriebenen weiter dachten - dies je in breiter Einbettung. Die Gefahr ist nicht ganz zu verkennen, dass daraus eine Geschichte der sozialen Bewegungen und Netzwerke wird, die bereits in der Forschung boomt - nur bezogen auf den Blickwinkel der Menschenrechte. Dennoch ist das fürs erste eine ganze Menge. Weitere Studien sollten folgen, die stärker das politische Establishment, Parteien und gesellschaftliche Kräfte wie die Religionsgemeinschaften einbeziehen könnten. Dann wird man besser sehen können, wie weit der innovative Ansatz von Lora Wildenthal trägt.
Anmerkungen:
[1] Silke Voss: Parlamentarische Menschenrechtspolitik. Die Behandlung internationaler Menschenrechtsfragen im Deutschen Bundestag unter besonderer Berücksichtigung des Unterausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe (1972 - 1998), Düsseldorf 2000.
[2] Lora Wildenthal: Human Rights Activism in Occupied and Early West Germany: The Case of the German League for Human Rights, in: Journal of Modern History, vol. 80, no. 3 (September 2008), 515-556; dies.: Rudolf Laun und die Menschenrechte der Deutschen im besetzten Deutschland und in der frühen Bundesrepublik, in: Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, hg. v. Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen 2010, 115-141 (auch in der englischen Buchversion: ders. (Hg.): Human Rights in the 20th Century, Cambridge 2010, 125-146)
Jost Dülffer