Tim Szatkowski: Gaddafis Libyen und die Bundesrepublik Deutschland 1969 bis 1982 (= Zeitgeschichte im Gespräch; Bd. 15), München: Oldenbourg 2013, 135 S., ISBN 978-3-486-71870-6, EUR 16,80
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Anhand neuerschlossener Primärquellen aus dem Archiv des Auswärtigen Amts zeichnet Tim Szatkowsi in dem hier zu besprechenden Band die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Libyen von Oberst Muammar al-Gaddafi nach. Vor allem interessiert den Autor der Widerspruch, dass Libyen trotz seiner Verwicklung in den internationalen Terrorismus und dem zunehmenden Wandel in einen Unrechtsstaat einer der "bedeutendsten Wirtschaftspartner" der Bundesrepublik blieb, zu dem die politischen Kontakte schrittweise intensiviert wurden. (7)
Szatkowski lässt keinen Zweifel daran, dass die deutsche Libyen-Politik "von vornherein wirtschaftlich determiniert" war. Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre stammten bereits rund 40 Prozent der Öleinfuhren der Bundesrepublik aus Libyen. Das Land avancierte zu einem bedeutenden Absatzmarkt für deutsche Produkte. (127 f.) Auf politischer Ebene wiederum bezog Libyen gerade aus seiner Rolle als Sponsor des internationalen Terrorismus Bedeutung - was auch direkte Konsequenzen für die Bundesrepublik hatte: Wie Szatkowski belegt, hatte der palästinensische "Schwarze September" für den Münchner Olympiaanschlag (1972) logistische Hilfe von Gaddafi erhalten. (37) Die überlebenden Attentäter wurden wenig später freigepresst und von Libyen aufgenommen. Dennoch entschied die Bundesregierung von einem Auslieferungsantrag Abstand zu nehmen - einerseits, weil kein formales Abkommen dafür vorhanden war und andererseits, weil man froh war, dass sich die Lage "hinreichend beruhigt" hatte, wie es der deutsche Botschafter in Tripolis formulierte. (40 f.)
In der Folge bemühte man sich den potentiellen Unsicherheitsherd Libyen durch bilaterale Kooperation im Sicherheitsbereich zu entschärfen: Im Gegenzug für Ausbildungskurse für libysche Polizisten in der Bundesrepublik fanden Ende der 1970er Jahre Treffen zwischen Vertretern des Bundesinnenministeriums und des Bundeskriminalamts mit libyschen Stellen statt. Diese Zusammenarbeit habe sich "zumindest partiell" ausgezahlt, konstatiert Szatkowski. (129) So erklärte sich Libyen während des "Deutschen Herbst" (1977) bereit, auf keinen Fall möglicherweise freigepresste Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) aufzunehmen. Auch auf internationaler Ebene unterstützte Libyen einen deutschen Vorstoß für eine UN-Konvention gegen Geiselnahmen. Diese Erfolge wurden allerdings dadurch konterkariert, dass Libyen weiter an der Unterstützung von Terrorgruppen festhielt. Die Hoffnung, Libyens Haltung zum Terrorismus generell beeinflussen zu können, erwies sich somit als "Illusion", so Szatkowski. (130)
Anders als etwa die USA, die Anfang der 1980er Jahre zunehmend die offene Konfrontation mit dem Gaddafi-Regime suchten, habe die Bundesrepublik versucht, zu einem modus vivendi zu kommen: Auf diese Weise sollte es möglich sein, Gaddafi aus dem sowjetischen Machtbereich herauszuhalten und mäßigend einzuwirken, ohne die wichtige Öl-Nachschubslinie zu gefährden. Szatkowski legt überzeugend dar, dass diese pragmatische Herangehensweise auch der prekären Position der Bundesrepublik im Kalten Krieg geschuldet war: "Infolge der Teilung der deutschen Nation drohten ihr im Ost-West-Konflikt zudem größere Gefahren als anderen westeuropäischen Staaten, was Zurückhaltung gebot. Zum anderen lag es daran, dass die Bundesrepublik wirtschaftlich von Libyen weit abhängiger blieb als die USA. Deshalb entsprach es geradezu ihrer Staatsräson, eine eher vermittelnde Rolle einzunehmen, [...]." (42)
Dass ein für 1980 geplanter Staatsbesuch Gaddafi in der Bundesrepublik dann nicht zustande kam, hing damit zusammen, dass dieser die Leitlinien seiner Politik nicht änderte, sondern darauf bedacht war, soviel Eigenvorteil wie möglich zu ziehen. Spätestens Anfang der 1980er Jahre machten eine Mordkampagne an Exilanten, welche auch ein Opfer in Bonn forderte, die Invasion im Tschad, eine unberechenbare Ölpolitik und militärische Kooperation mit der Sowjetunion deutlich, dass sich Gaddafi von westlicher Gesprächsbereitschaft nicht wirklich beeinflussen ließ. (105) Im Gegenteil, die libysche Europapolitik, so Szatkowski, sei "in hohem Maße taktisch bestimmt und ohne solides, verlässliches Fundament" gewesen. (108) Das Regime schreckte auch nicht davor zurück, zweimal - 1980 und 1983 - deutsche Staatsbürger als Geiseln zu nehmen, wobei nur im letzteren Fall Zugeständnisse gemacht wurden. (129)
Diese ernüchternde Erfahrung machte auch der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, auf den Szatkowski gesondert hinweist. Kreisky war noch einen Schritt weiter gegangen als die sozialliberale Koalition, indem er Gaddafi 1982 als erster westlicher Staatsmann empfing. In einem Schreiben an seinen Parteifreund Helmut Schmidt zog Kreisky folgendes Resümee: "Es wird für Gaddafi sicher nicht leicht sein, sein bisheriges Image im Westen als Schutzpatron so gut wie jeder terroristischen Bewegung zu ändern. Dennoch glaube ich, dass es im wohlverstandenen Interesse des gesamten Westens sein müsste, den Annäherungsversuch Gaddafis nicht von vornherein zurückzuweisen. Gaddafi scheint mir durchaus bereit, bei seinen Bemühungen auch konkrete Gesten zu setzen."[1] Obgleich sich Kreisky viel davon versprach, Gaddafi von seinem radikalen politischen Weg abzubringen, beherbergte dieser ab 1984 auch die Gruppe des PLO-Abweichlers Abu Nidal, die in den frühen 1980er Jahren mehrfach österreichische Ziele angriff. Auch die Vorsprache eines Kreisky-Emissärs in Tripolis wenige Tage vor dem Anschlag auf dem Flughafen Wien-Schwechat (1985) konnte dessen Ausführung nicht mehr verhindern - angeblich, weil man die Attentäter nicht mehr rechtzeitig hatte erreichen können. Selbst auf wirtschaftlicher Ebene blieben die Resultate weit hinter den Erwartungen zurück. [2]
Die Spannungen zwischen Libyen und der Reagan-Administration waren in Jahren 1981-1986 bis hin zu mehreren Konfrontationen eskaliert. In deren Verlauf verübten libysche Agenten auch einen Anschlag auf die von US-Soldaten frequentierte Diskothek "La Belle" in West-Berlin. Aber auch der militärische Druck seitens der USA reichte nicht aus - so sollte Gaddafi seine Förderung von terroristischen Gruppen erst nach jahrelanger wirtschaftlicher und politischer Isolation in den 1990er Jahren aufgeben. Und es bleibt die Frage offen, inwieweit die Politik der USA die Radikalisierung Gaddafis nicht befeuert hatte. Die Haltung der Bundesrepublik dagegen erscheint laut Szatkowski nur auf den ersten Blick überlegen - denn auch hier bleiben Zweifel, ob nicht die politische und wirtschaftliche Kooperation Gaddafis Macht stabilisierte "und so neue innen- und außenpolitische Gewaltexzesse ermöglichte". (131)
Zusammengefasst bedeutet Szatkowskis kompakte Studie einen willkommenen Beitrag zum Verständnis eines wichtigen Kapitels jüngerer Zeitgeschichte. Gerade hinsichtlich Libyens existieren zwar zahlreiche journalistische Arbeiten, aber praktisch kaum quellengestützte Forschungsliteratur. Die Untersuchung liefert auch Kontext zum Verständnis der Umwälzungen im Zuge des "arabischen Frühlings" - als 2011 auch Gaddafis Regime ins Wanken geriet und die UNO über eine militärische Intervention abstimmte, verhielt sich die Bundesrepublik erstaunlich konsequent und enthielt sich. Diese Entscheidung, merkt Szatkowski kritisch an, "spiegelte im Grunde den politischen Kurs wieder, den man schon in den 1970er Jahren gegenüber Libyen eingeschlagen hatte. Hätten die anderen westlichen Staaten 2011 ebenso gehandelt, wäre Gaddafis Herrschaft vermutlich noch um einiges verlängert worden." (132)
Anmerkungen:
[1] Bruno Kreisky an Helmut Schmidt, 26.3.1982, in: Stiftung Bruno Kreisky Archiv (StBKA), VII.1. Länderbox BRD 2.
[2] Thomas Riegler: Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973-1985, Göttingen 2011, 289-293.
Thomas Riegler