Rolf Kießling / Wolfgang Scheffknecht (Hgg.): Umweltgeschichte in der Region (= Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen; Bd. 9), Konstanz: UVK 2012, 382 S., ISBN 978-3-86764-321-4, EUR 44,00
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Umweltgeschichte ist eine junge historische Perspektive, die sich im Kanon der Geschichtswissenschaften nachhaltig etabliert hat. Von einem expliziten Brückenschlag zur älteren, in manchem Zugang aber durchaus verwandten Teildisziplin Landesgeschichte war bisher kaum etwas zu lesen, der vorliegende Sammelband zur 12. Tagung des Memminger Forums betritt also Neuland. Angesichts vieler wegweisender Beiträge deutlich zu bescheiden formuliert Rolf Kießling in seinem einführenden Statement das Ziel, nur zu erproben, wie tragfähig die in Forscherkreisen seit langem diskutierten Verbindungen zwischen beiden Ansätzen und vor allem dezidiert landeshistorische Zugriffe auf das Forschungsfeld der Umweltgeschichte sein können. Der Band deckt vier Themenkomplexe aus der Umweltgeschichte ab: An erster Stelle steht, sicherlich der tagesaktuellen Bedeutung geschuldet, die Klimageschichte, es folgen die Nutzung und Kultivierung von Wald- und Moorgebieten, die Bewältigung von Seuchen und zuletzt der Umgang mit Tieren. Der chronologische Bogen spannt sich vom späten Mittelalter bis in die jüngste Zeitgeschichte.
Ausgangspunkt ist ein naturwissenschaftlich geprägter Blick der Glaziologin Heidi Escher-Vetter auf Klimaentwicklung und Gletscher in Mitteleuropa seit 1500. Dokumentiert werden Gletschervorstöße bis ins 19. Jahrhundert hinein, sodann entsteht ein präzise ausdifferenziertes Bild des Rückgangs alpiner Vergletscherung im vergangenen Jahrhundert. Die folgenden Beiträge von Peter Winkler zur Wetterstation Hohenpeißenberg und von Hans-Jörg Künast zu Augsburger Wetteraufzeichnungen im 16. Jahrhundert gelten dann zwei lokalen Quellenserien aus der Region am bayerischen Lech, die vor- und frühmoderne Klimadaten in für ihren jeweiligen Zeithorizont innovativer Manier erschließen. Damit werden Aussagen zur Klimageschichte möglich, die über die engere Region hinaus gelten können. Auf dem Hohenpeißenberg setzte die ununterbrochene Folge exakter meteorologischer Messungen im späten 18. Jahrhundert ein; vergleichsweise kursorisch, aber ebenfalls regelmäßig liegen die Beobachtungen eines Augsburger Bürgers in seinem Schreibkalender zu den Jahren 1579 bis 1588 vor.
Für das 15. Jahrhundert werden in den beiden folgenden Studien von Christian Jörg und Stefan Sonderegger das Zusammenspiel klimatischer Veränderungen mit Agrarkrisen aus den jeweiligen Spezialgebieten der Autoren heraus entwickelt, jedoch auf unterschiedlicher Quellengrundlage. Jörg untersucht regionale Hungerperioden im Reich und erschließt dabei den meteorologischen Kontext aus der zeitgenössischen Chronistik. Sonderegger greift für seine Untersuchung zur ländlichen Sozialgeschichte der Nordostschweiz auf lokales Verwaltungsschriftgut zurück und erarbeitet das Zusammenwirken von Grundherren und Grundholden bei der Bewältigung klimabedingter Produktionsrückgänge in der Landwirtschaft. Diese Divergenz im methodischen Zugriff zeigt, wie wohltuend gering die Umweltgeschichte bisher als "Teildisziplin" kanonisiert ist. Die Autoren behalten ihr eigenes Methodenprofil bei und sehen sich nicht auf verbindliche Zugriffskonzepte oder vorgegebene Ergebnisräume festgelegt.
Zum zweiten thematischen Schwerpunkt, den Wandlungen im Umgang mit Wald und Moor, untersucht Gerhard Immler die sehr unterschiedliche vormoderne Nutzung zweier umfangreicher Waldgebiete im Fürststift Kempten. Während der Kempter Wald östlich der Stadt Kempten in vormoderner Zeit eine vielfältige, stetige und sich intensivierende Nutzung erfuhr, ist für die ausgedehnten Waldregionen westlich der Stadt nur eine spärliche Nutzung bezeugt - ein Unterscheid, den Immler auf unterschiedliche Rechtsverhältnisse in den beiden Arealen zurückführt. "Umweltgeschichte" ist die Studie vor allem dort, wo es um Veränderungsprofile im Umgang mit dem Naturraum geht - also etwa um die allmähliche Erschließung der vormals ungenutzten Waldgebiete westlich von Kempten. Hier zeigt sich dann das Potential einer traditionellen landesgeschichtlichen Perspektive, der Beschäftigung mit Herrschaftsrechten.
Klaus Brandstätter erschließt Auswirkungen des landesherrlichen Tiroler Bergbaus auf die Waldgebiete der Region im 15. und 16. Jahrhundert. Der Holzbedarf von Bergrevieren wie Schwaz war exorbitant; zu seiner Deckung entstand seit dem 15. Jahrhundert eine ambitionierte und auf die nachhaltige Bewirtschaftung des Rohstoffs ausgelegte Forstverwaltung. Dennoch zeitigte die intensive Ausbeutung der Tiroler Wälder dauerhafte Folgen für die Umwelt, die zum Teil bis heute sichtbar sind.
Der Beitrag von Paul Hoser zur Kultivierung des Donaumooses füllt eine Forschungslücke zur historischen Topographie Bayerns. Das betrifft weniger die bekannte ursprüngliche Umgestaltung der ausgedehnten Moorlandschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert, die Hoser mit den Intentionen zentraler Akteure verknüpfen kann. Faszinierend ist vor allem der gelungene Längsschnitt durch die Geschichte des Donaumooses bis an die Gegenwart heran. Hoser gelingt es auf archivalischer Quellenbasis, strukturell angelegte Probleme, aber auch Handlungsmuster der Akteure ins spätere 19. und ins 20. Jahrhundert fortzuschreiben: Es geht etwa um Be- und Entwässerungsmaßnahmen, um Sanierungen, neue landwirtschaftliche Profilierungen und erst in jüngster Zeit auch um Fragen des Umweltschutzes. Dem Donaumoos ist offenkundig über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg der Charakter eines Projekts verblieben.
Das Potenzial einer landesgeschichtlichen Methodenvielfalt im Zugriff auf die Geschichte allfälliger mittelalterlicher und vormoderner Krankheitsereignisse kann Peer Frieß am Beispiel des sogenannten "Heiligen Feuers" oder "Antoniusfeuers" aufzeigen, einer Vergiftungserkrankung, die aus dem Genuss von Pilzen befallener Roggenähren resultiert ("Mutterkorn"). Frieß erschließt als Hintergrund ein regional unterschiedliches, komplexes Zusammenspiel verschiedener Umweltfaktoren und anthropogener Einflüsse und unterlegt den Wirkungszusammenhang mit einer innovativen begriffsgeschichtlichen Analyse: Die Perzeption des - mit dem modernen medizinischen Begriff - "Ergotismus" war in verschiedenen Zeiten und Regionen mit unterschiedlichen Termini verknüpft. Die Ausbrüche der Krankheit beschränkten sich keineswegs, wie bisher angenommen, auf das Mittelalter, sondern traten in anderer regionaler Verteilung auch in der frühen Neuzeit auf.
Ebenfalls dem dritten Schwerpunkt des Bandes, dem Umgang mit Krankheiten und Seuchen, gilt Christine Werkstetters Beitrag zum Seuchendiskurs im späteren 18. Jahrhundert. Auf drei Diskursebenen erarbeitet sie die Reaktionen auf gehäufte Krankheitsfälle im jüdischen Teil der Bevölkerung des reichsritterschaftlichen Dorfes Fellheim an der Iller. Auf administrativer Ebene nahm die Akzeptanz alarmierender Gerüchte und damit die Intensität präventiver Maßnahmen mit der Entfernung zum vermeintlichen Seuchenherd zu, während in der nahen Reichsstadt Memmingen eine bemerkenswerte Bereitschaft zur Hilfeleistung vor Ort bestand. Auf lokaler Ebene überwog bei der christlichen Bevölkerung ein unaufgeregter Umgang mit der Krise, ganz im Zeichen des für diese Region bekannten friedlichen und kooperativen Miteinanders von Juden und Christen. Den medizinischen Diskurs schließlich bestimmte bei durchaus unterschiedlichen Bewertungen im Detail ein verwissenschaftlicher Zugang der beteiligten Ärzte, der gleichwohl von antijüdischen Ressentiments mitbestimmt sein konnte.
Noch am wenigsten einem landesgeschichtlichen Ansatz verpflichtet ist Barbara Rajkays unterhaltsamer Aufsatz zur Präsenz von Haus- und Nutztieren im öffentlichen Raum vormoderner Städte. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive präsentiert die Autorin genussvoll ein buntes Mosaik von Quellentexten zur Akzeptanz oder Nichtakzeptanz von Hunden und Schweinen in Kirchenräumen oder auch im städtischen Straßenbild und lenkt damit effektiv den Blick auf das bisher Nebensächliche.
Wesentlich enger am Konzept regionaler Begrenztheit operiert Gerhard Hetzer in seinem Beitrag zur Genese des Tierschutzdiskurses im Kontext der Schlachtung von Vieh im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert: Sein Material bleibt den interagierenden Handlungsträgern im bayerischen Königreich verhaftet, so dass seine Schlüsse für den regionalen Fall und als Folie für regional übergreifende Fragestellungen Gewicht erhalten. Damit gewinnt dieses hochaktuelle Themenfeld eine historische Tiefendimension: Auch im 19. Jahrhundert konnten es, wie im Fall Münchens, Vereinigungen von engagierten Bürgern sein, die sich im Dialog mit der Öffentlichkeit für "humanere" Bedingungen im Umfeld des Schlachtens einsetzten, und die auf den entschiedenen - und bisweilen erfolgreichen - Widerstand wirtschaftlicher Interessengruppen stießen.
Das bisherige Nebeneinander von Landes- und Umweltgeschichte musste für beide Seiten unbefriedigend sein: Vor dem Hintergrund der Beiträge des Bandes macht Rolf Kießling in seiner Einführung völlig zu Recht deutlich, wie gut das typisch landesgeschichtliche Operieren am überschaubaren Raum mittels spezifischer Zugangswege und in Kombination verschiedener Fragestellungen harmoniert mit Charakteristika der Umweltgeschichte. Die Erforschung der Wechselwirkungen von Mensch und Natur führt, so Kießling, ganz selbstverständlich zum Konzept überschaubarer Erfahrungsräume, legt also räumliche Begrenzungen nahe und damit die Bearbeitung abgrenzbarer Räume.
Der allgemeinen Umweltgeschichte mag die signifikante Nähe der Landesgeschichte zu den - gerade archivalischen - Quellenüberlieferungen neue Ergebnisräume öffnen. Für landesgeschichtliche Zugriffe lassen sich unter dem Eindruck aktueller umweltgeschichtlicher Akzentuierungen vielen traditionellen historischen Konstellationen in der Region - etwa Konfliktszenarien verschiedener behördlicher Akteure - neue Kontexte und Legitimationen abgewinnen.
Martin Ott